Jan Kuhnert ist nicht das Gesicht auf den Wahlplakaten. Mit Platz 7 auf der Wahlliste des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zum Bundestag wird er voraussichtlich auch nicht die Vorzüge eines Mandats genießen. Und doch ist er einer der Macher im Team des Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern. Der 58-jährige Neubrandenburger ist in der Region fest verwurzelt. Man kennt den Jan – auf dem Fußballplatz, als engagierten Gewerkschafter oder als Kommunalpolitiker. Jetzt gehört er zu den Organisatoren der Wahlkampfveranstaltungen der neuen Partei. Heute kommt Oskar Lafontaine in die Vier-Tore-Stadt, worauf Jan Kuhnert stolz ist. „Lafontaine ist einer der ganz großen deutschen Politiker“, sagt er.
Ganz so lang ist der politische Werdegang von Jan Kuhnert noch nicht. Der gelernte Maler und Lackierer ist in einem politischen Elternhaus groß geworden und seit Anfang der 1980er Jahre Gewerkschaftsmitglied. Nach der Wende zog es ihn in die Sowjetunion und er arbeitete an der Erdgastrasse am Ural. Dort traf er seine Frau Julia, mit der er noch heute zusammenlebt. Zurück in Deutschland engagierte er sich ehrenamtlich in der Gewerkschaft, wo ihn sein Weg bis zum hauptamtlichen politischen Sekretär führte. Beruflich bildete er sich über eine Ausbildereignung zum Handwerksmeister weiter. Zwei Jahre war er unter anderem als Jugendbildungsreferent in Nordrhein-Westfalen verantwortlich, bevor er ab 2006 für die Jugendbildung in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern Verantwortung übernahm. 2006/07 schickte ihn seine Gewerkschaft zum Studium an die „Europäische Akademie der Arbeit“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Aufgrund der Gewerkschaftsarbeit und der traditionellen Nähe zur SPD dachte Jan Kuhnert kurzzeitig über eine Mitgliedschaft nach. Diesen Gedanken verwarf er aber schnell: „Die Hartz-IV-Gesetze fand ich damals einfach unsozial“, sagt er. 2007 trat er stattdessen in die Partei „Die Linke“ ein, die damals aus der Vereinigung der westdeutschen „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der ostdeutschen PDS als neue Partei hervorging. Zwei Jahre später wurde er dann in die Neubrandenburger Stadtvertretung gewählt, wo er bis heute die Kommunalpolitik mitgestaltet.
Kuhnert ist pragmatisch und für Probleme sucht er schnelle Lösungen. Gern auch mal auf dem kurzen Dienstweg. Dass Politik auch ein schmutziges Geschäft ist, bekam der engagierte Neubrandenburger später zu spüren. Weil ihm innerparteiliche Querelen und Gerangel um vorteilhafte Listenplätze bei den Landtagswahlen zuwider waren, verließ er 2022 die Partei. „Ich bin manchmal sehr direkt und sage meine Meinung offen. Damit kann nicht jeder umgehen.“
Heute sitzt Jan Kuhnert in der ersten Reihe bei der Wahlveranstaltung des BSW. Der große Saal ist etwa zur Hälfte gefüllt, es wird zusätzlich per Live-Stream übertragen. Das Publikum ist zumeist Ü60. Nachdem die Bundestagswahl-Kandidaten für Mecklenburg sich vorgestellt haben, betritt Oskar Lafontaine die Bühne. Der 81-jährige begeistert die Anwesenden mit einer kämpferischen Rede. Er warnt vor dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes und benennt die hohen Energiepreise als Schlüssel dafür. Statt Steigerung der Militärausgaben mahnt Lafontaine Investitionen in öffentliche Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser oder die Bahn an. Auch mehr Geld für Rentner fordert er. „Wenn in Österreich ein Rentner etwa 800 Euro monatlich mehr bekommt als in Deutschland, dann stimmt doch etwas nicht im Land.“ Der Applaus der Anwesenden bestätigt seine Ansicht.
Doch Lafontaine ist noch nicht am Ende. Er kritisiert die Privatisierung des Gesundheitswesens sowie die Geldspenden von Bill Gates an den Spiegel oder von George Soros an den Verein Campact. „Ist die veröffentlichte Meinung etwa käuflich?“, fragt er in das Publikum.
Für Jan Kuhnert sind das alles Gründe, warum er sich für das BSW engagiert. „Ich sehe meine persönlichen Werte – Frieden, Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit – am besten durch das BSW vertreten.“ Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der Wagenknecht-Partei. Angefangen hat alles im Dezember 2023 mit einem Anruf von Sabine Zimmermann, der Landesvorsitzenden des BSW in Sachsen. „Ob ich für das Bündnis die Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern aufbauen helfe“, erinnert sich Kuhnert an das Anliegen der Anruferin. Nach kurzer Bedenkzeit und Rückendeckung durch die Familie entschied er sich mitzumachen. Er erinnert sich noch gut an den Gründungsparteitag am 27. Januar 2024: „Sahra Wagenknecht hat eine mitreißende Rede gehalten.“
Wieder zurück in Mecklenburg, machte sich Jan Kuhnert an die Arbeit. Er hilft dabei, das monatliche Unterstützertreffen, den „BSW-Stammtisch“, zu organisieren. Als einer von mehreren Kreiskoordinatoren stimmte er das Vorgehen mit Engagierten aus anderen Städten ab. „EDV, soziale Medien, Pressearbeit. Ich bin noch nie so viel durch das Land gereist“, sagt er.
Im aktuellen Wahlkampf ist Jan Kuhnert wieder unterwegs. Ob bei Lafontaine in Neubrandenburg, beim EU-Abgeordneten Jan-Peter Warnke in Güstrow oder Michael Lüders in Stralsund. Überall organisiert und hilft er mit. Ist Mecklenburg für das BSW so wichtig? „Absolut“, sagt er. „Bei den Europa- und Kommunalwahlen haben wir hier überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. In allen Kreistagen des Landes, wo wir angetreten sind, haben wir den Einzug geschafft.“
Für die Bundestagswahl hofft Jan Kuhnert auf den Einzug der noch jungen Partei in das Parlament. „Wenn wir in Mecklenburg wie bei der Europawahl 15 Prozent holen, wäre ich glücklich.“ Für das Bundesland im Norden wäre es besonders wichtig, die Energiepreise zu senken. Kuhnert: „Wir kaufen russisches Gas über Belgien und russisches Öl über Indien. Nur für den vielfachen Preis. Das ist doch Irrsinn.“
Was denkt Jan Kuhnert über Sahra Wagenknecht, die Namensgeberin des BSW? Deren Omnipräsenz wird von Kritikern gern als Angriffsfläche genutzt. Das lässt der Mecklenburger aber nicht gelten. Für ihn macht die Strategie Sinn. „Sahra ist in weiten Teilen der Bevölkerung beliebt. Ihr souveränes Auftreten und ihre sachlich fundierten Argumente kommen bei den Menschen an.“ Dass auch beim BSW nicht alles glatt läuft, weiß Kuhnert. Der Zwist in einigen Landesverbänden ärgert ihn. „Völlig unnötig“, so seine Meinung. „In unserem Regionalbereich, der Mecklenburger Seenplatte, pflegen wir eine offene und sachliche Diskussionskultur. Die ist leider generell in Deutschland abhandengekommen.“ Fehler zuzugeben, ist für Jan Kuhnert kein Problem. „So ehrlich muss man dann sein, wenn man sich geirrt hat. Bei mir war das mit der Corona-Zeit so. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass dort so gelogen wurde. Da lag ich falsch.“
Oskar Lafontaine ist noch immer in seinem Element. Er erklärt den Zuhörern die Position des BSW zum Thema Migration und schließt seine Rede mit scharfen Worten zu deutschen Waffenlieferungen an Israel und dem Vorgehen in Gaza. Es gibt stehenden Applaus. Nach der Rede begleitet Jan Kuhnert den Gast aus dem Saarland durch die Menschenmenge in die Pause. Am Imbissstand besorgt er eine Bockwurst mit Toast. Auch die kleinen Dinge erledigt der Jan, wie gehabt auf dem kurzen Dienstweg.
Mirko Jähnert hat mehrere Kurse an der Freien Akademie für Medien & Journalismus besucht. Er lebt und arbeitet in Mecklenburg-Vorpommern.
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