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Oben & Unten | 03.09.2025
Blutarmut
Warum sind sozialwissenschaftliche Texte oft so blutleer? Reflektionen über eine Buchrezension, die nicht geschrieben wurde.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Neulich erwarb ich als Zufallsfund das Buch „Die Antiquiertheit der Frau. Vom Verschwinden des feministischen Subjekts“ von Sara Rukaj. Viele ihrer Kritikpunkte am aktuellen Feminismus teile ich und ich spielte mit dem Gedanken, das Buch zu rezensieren. Aber bald habe ich den Gedanken verworfen.

Soziologische, politologische oder psychologische Texte und Podcasts ermüden mich häufig, egal ob ich mit den jeweiligen Thesen übereinstimme oder nicht. Mir fällt auf, dass die Texte bei allem missionarischen Eifer oft blutleer sind. Sie bieten keine Anekdoten, keine Geschichten, die die Unschärfe, Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens und des Handelns abbilden. Es gibt in ihnen keine Menschen, die etwas wollen, einfach weil sie es wollen.

Auch bei Sara Rukaj trifft man auf einen Feminismus, in welchem reale Frauen und ihre vielfältigen Wünsche und Träume keine Rolle spielen. Das gilt für die von ihr kritisierten Strömungen ebenso wie für sie selbst. In anderen Texten trifft man auf Arbeiterbefreier, die keine realen Arbeiter kennen. Die weder die Rolle von Arbeit noch den Stolz der Arbeitenden auf ihre Arbeit verstehen und die deshalb Arbeiter nur als Prekariat und Unterprivilegierte erfassen können. Wenn dennoch Personalisierung versucht wird, dann entlarven die stereotypen Aufzählungen von Lidl-Kassiererinnen, Pflegekräften und Streifenpolizisten klischeehafte Ahnungslosigkeit. Anderswo ist ständig die Rede von „den Herrschenden“. Haben diejenigen, die dieses Wort im Mund führen und genau durchschauen, was die Herrschenden im Schilde führen, je einen dieser Herrschenden kennengelernt? Waren sie selbst schon mal in einer „Herrschaftssituation“, zum Beispiel als Teil eines Gremiums, das befugt und verpflichtet ist, Entscheidungen zu treffen, die in der realen Welt und für andere Menschen Folgen haben werden? Andernorts wird das Aufkommen von Populisten mit dem Populismus erklärt. Oder war es umgekehrt? Egal! Der Populus, also wir Bürger und Wähler, kommt in solchen Analysen sowieso nur noch als willenlose Knetmasse vor. Und so weiter und so fort. Es ist ein Patriarchat ohne Patriarchen, ein Kapitalismus ohne Kapitalisten, ein System Arbeit ohne Arbeitende.

Umso mehr treffen wir auf eine Welt voller Modelle, voller -Ismen, Etiketten, Identitäten und Mikroidentitäten, begleitet von der Annahme, dass die Kategorisierung und Etikettierung vollständig erklärt, was jemand sagt oder tut. Dass nicht alles, was Frauen, Männer oder Kapitalisten tun oder erleben, nicht nur deshalb passiert, weil sie Frauen, Männer oder Kapitalisten sind – das ist in solchen mechanistisch-unterkomplexen Modellen nicht vorgesehen.

Zum großen Teil erschöpfen sich die Texte in Auseinandersetzungen mit den Modellen anderer Soziologen, Politologen oder Psychologen. Auch hier ersetzen Etikettierung und Kategorisierung den Lebensbezug. Und in regelmäßigem Abstand werden ohne weitere Begründung, aber mit Endgültigkeitsanspruch Allerklärungsthesen eingestreut, die jeden Zweifler, der anders auf die Welt blickt, als Naivling, als Leugner wissenschaftlicher Wahrheiten oder gar als ferngesteuerten Agenten finsterer Mächte abstempeln.

Ich habe ähnliches auch in meinem Fachgebiet erlebt: Im Feld der Personalauswahl diskutieren Eignungsdiagnostiker mit Eignungsdiagnostikern über Eignungsdiagnostik, aber die realen Akteure, die Unternehmer und Mitarbeiter, ohne welche die Eignungsdiagnostik gar keinen Gegenstand hätte, kommen nur als küchenpsychologische Störfaktoren eines objektivistischen Verständnisses von Wissenschaft vor.

Meldet sich eine der vereinnahmten Gruppen selbst zu Wort und stimmt ihr Verhalten nicht mit dem von ihren Erlösern vorgesehenen Heilsplan überein, dann wird die Allzweck-Waffe gezückt, der „Unconscious Bias“: Du bist gar nicht du. Du willst gar nicht, was du zu wollen glaubst. Wenn Wähler nicht das wählen, was sie nach Meinung ihrer selbsternannten Betreuer und Wortführer wählen müssten, dann leiden die Wähler am Stockholm-Syndrom und haben sich unerlaubterweise mit ihren Unterdrückern solidarisiert.

Jede Wissenschaft, ja letztlich menschliches Denken überhaupt arbeitet mit Abstraktionen. Ich muss nicht jedem Baum einen eigenen Namen geben, sondern kann eine große Anzahl von Bäumen als Wald bezeichnen. Aber der Wald ist nicht die Ursache des Baumes. Wir dürfen nie vergessen, dass wir nur zusammengefasst und abstrahiert, aber keine Kausalitäten gefunden haben. Das Allgemeine ist nicht die Ursache des Besonderen. Das Konkrete nicht die Folge des Abstrakten. Deduktion funktioniert nicht: Aus dem Allgemeinen lässt sich niemals kausal das Spezielle ableiten, schon gar nicht in einer bestimmten Gestalt an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Und was bereits für unbelebte Gegenstände gilt, das gilt erst recht für Subjekte mit eigenem Willen und eigenen Absichten. Ständig werden Trends und Megatrends proklamiert, aber Funkstille herrscht schon bei der einfachen methodischen Frage, ob Trends sich auch dann durchsetzen, wenn niemand etwas dafür tut.

Es ist leicht, das Anekdotische zu kritisieren oder lächerlich zu machen. Aber Realität ist am Ende immer anekdotisch und einmalig, hat immer einen bestimmten Ort, eine Zeit, eine Form. Kultur ist nicht die Ursache des individuellen Handelns, sondern Kultur ist ein Sammelbegriff für das Handeln von Individuen in einer bestimmten Zeit, einem Land, einer Organisation. Und deshalb können Menschen, aber eben nur Menschen die Welt verändern. Marx beschrieb das in den „Thesen über Feuerbach“, einem meiner Lieblingstexte:

Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert werden und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihn erhaben ist – sondieren.

Die Sozialwissenschaften und ihre popularisierten Ableger trifft man ununterbrochen in der von Marx bemerkten Attitüde, außerhalb des Systems zu stehen und es von oben beurteilen und klassifizieren zu können, ohne selbst den konstatierten Phänomenen unterworfen zu sein.

Wer nie von realen Menschen spricht, wer nie Anekdoten erzählt, sondern die Welt nur als Schlachtfeld von Ismen und anonymen Mächten und Kräften beschreibt, der ist nicht zwangsläufig wissenschaftlicher, sondern er hat vielleicht nur die Verbindung zur realen Welt und zum realen Leben verloren. Der französische Philosoph Gaspard Koenig erzählte mir, wie er die Lust an Philosophie verlor: Es war sein Eindruck, dass sich die Philosophen seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr mit realweltlichen Themen, sondern nur noch mit anderen Philosophen und deren Begriffen, Modellen und Thesen beschäftigen. Koenig schreibt und reflektiert seitdem nur noch über Dinge, die er auf Reisen, bei Begegnungen mit echten Menschen und in Selbstversuchen kennengelernt hat. Wir müssen nicht bei der Anekdote stehenbleiben, aber ohne Anekdote bleibt alles blutleer.

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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Bildquellen: Gerd Altmann @Pixabay