Nein, tiefere Einblicke in die japanische Politik besitze ich nicht. Ich weiß auch, dass alle Idealisierungen anderer Kulturen und Länder in der Enttäuschung enden. Und mir ist bewusst, dass die Wahrnehmungen eines Urlaubsreisenden allenfalls an der Oberfläche kratzen.
Aber als Tourist macht man durchaus Dinge, die auch Einheimische machen – und die man auch als Deutscher in Deutschland macht: Man läuft durch die Stadt. Man benutzt öffentliche Verkehrsmittel. Man muss auf die Toilette. Man geht einkaufen und man nimmt Dienstleistungen in Anspruch. Dabei erlebt man als Deutscher in Japan Erstaunliches: Man fährt von einem abgelegenen Ort in den Bergen mit fünfmaligem Umsteigen in die Hauptstadt. Alles ist einfach zu verstehen, alles ist pünktlich auf die Minute. Man muss nicht vorab über die unterschiedlichen Tarifsysteme promovieren. Nachdem man seine erste Scheu überwunden hat, macht es regelrecht Spaß, etwas fast Vergessenes zu genießen: eine perfekt erhaltene und funktionierende Infrastruktur. Es ist übrigens nicht so, dass in Japan alles nagelneu wäre. Im Gegenteil, manche Busse und Bahnen waren offensichtlich Jahrzehnte alt – älter als üblicherweise in Deutschland. Aber sie waren erhalten, gepflegt und auf den neuesten Stand der Fahrgastkommunikation gebracht.
Nie im Leben würde man sich in Deutschland in einer öffentlichen Toilette oder gar in einem Zug auf die Klobrille setzen. In Japan sind die Toiletten durchgängig so sauber, dass man sich wie ein Schwein vorkäme, wenn man sich nicht hinsetzte. Generell ist die Sauberkeit im öffentlichen Raum, auf den Gehwegen, in den U-Bahn-Stationen oder auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln frappierend. Es gibt nicht die schwarzen Kaugummireste auf den Fliesen, nicht die beim Putzen vernachlässigten Schmutzränder in Fluren und Gängen, nicht die angeschmuddelten Kunststoffoberflächen in Bussen und Bahnen. Was müssen Japaner denken, wenn sie nach Deutschland oder generell nach Europa kommen?
Gewiss verbergen sich hinter solchen Erscheinungen kulturelle Traditionen. Es werden dahinter auch viele verkehrspolitische und technische Entscheidungen stehen, die offenbar besser waren als bei uns. Dennoch möchte ich etwas anderes in den Vordergrund stellen, das für die Augen des deutschen Reisenden ebenso frappierend ist: Es sind leibhaftige Menschen, die für den Unterschied sorgen. Und diese Menschen sind nicht unsichtbar, sondern werden geradezu zelebriert. Sie verrichten ihre Arbeit mit größter Würde und fühlen sich für ihren Tätigkeitsbereich verantwortlich.
Tokyo Station. Der Shinkansen fährt auf die Minute genau in den Bahnhof ein. Dort wo die Türen sein werden, warten schon uniformierte Reinigungskräfte mit ihrer Ausrüstung. Beim Einfahren des Zuges verneigen sie sich zur Begrüßung. Nachdem die ankommenden Fahrgäste ausgestiegen sind und bevor die neuen einsteigen, haben sie fünf Minuten, ihren Waggon zu reinigen und alle Sitze in Fahrtrichtung zu stellen. In einem anderen Regionalzug sah ich, wie der Zugführer am Endbahnhof durch den Zug lief und einen kleinen Papierschnipsel vom Boden aufhob. Das Zugpersonal ist immer uniformiert, mit Kostüm oder Krawatte – und mit weißen Handschuhen.
Ich gehöre zu einer Generation, die gewiss keine besondere Affinität zu uniformierten Funktionsträgern besitzt. Und es ist leicht, über manches zu lächeln, etwa wenn sich der Schaffner beim Durchschreiten des Zuges in jedem Waggon noch einmal umwendet und sich gegenüber den Fahrgästen verneigt. Aber die Uniform und das ganze Verhalten stehen für etwas: Meine Arbeit ist wichtig. Es ist nicht egal, ob und wann und wie ich meine Arbeit verrichte. Ich bin verantwortlich für meinen Zug, meinen Bahnsteig, meinen Waggon. Und ich bin unverzichtbarer Teil der Gesamtleistung. Die Uniform sagt vor allem: Ich gehöre dazu. Und ich bin sichtbar auch als Reinigungskraft. Eigentlich sind das triviale Erkenntnisse. Und eigentlich wurden die Deutschen in aller Welt für eine ähnliche Haltung geschätzt. Wann und wie ist uns diese Haltung abhandengekommen?
In der Frühzeit meiner Berufstätigkeit betrug die Fertigungstiefe meines Arbeitgebers Daimler-Benz über 40 Prozent. Auch Küchenpersonal, Reinigungskräfte, Werksfeuerwehr, Etagenboten, Pförtner und viele andere mehr waren Mitarbeiter des Unternehmens. Sie trugen oft Uniform und stolz die silberne Nadel für 25-jährige Betriebszugehörigkeit. Wenn man sie nach ihrer Tätigkeit gefragt hätte, hätten sie wahrscheinlich geantwortet: Wir bauen die S-Klasse oder das modernste Flugzeug der Welt. Sie hätten ihre Arbeit als Beitrag dazu gesehen – und die Kollegen in der Montage hätten nicht widersprochen.
Dann entstand in der Managementlehre das Postulat der Reduzierung auf das Kerngeschäft und des Outsourcings aller Tätigkeiten, die nicht zu diesem Kern gehörten. Reinigungskräfte, Werkschutz, Kantine und Küche sind längst nicht mehr Teil der Belegschaft. Aber auch die industrielle Fertigungstiefe von Automobilherstellern beträgt heute weniger als 20 Prozent. Das heißt, 80 Prozent werden zugekauft bei Zulieferern, die auch Wettbewerber beliefern und selbst viele Unterlieferanten haben.
Auch ich selbst war infiziert von dieser Mode und habe sie in meinem Funktionsbereich vorangetrieben. Ich würde auch heute nicht sagen, dass diese Entwicklung in jedem Falle falsch war. Aber man darf sich nicht einbilden, dass man dafür keinen Preis bezahlt. Was macht Mercedes oder BMW unverwechselbar, wenn 80 Prozent der Wertschöpfung von Zulieferern geleistet werden, deren Kennzeichen gerade die Austauschbarkeit sein soll? Ist es so klar, dass die restlichen 20 Prozent unwiderlegbarer Kern sind? Mercedes baut seine Getriebe selbst, BMW lässt sie von ZF zuliefern. Manche Hersteller haben eigene Designabteilungen. Andere nehmen externe Designbüros in Anspruch. Manche betreiben eine eigene Motorengießerei, andere nicht. Selbst die Endmontage, früher das Allerheiligste, erfolgt teilweise bei Zulieferern, etwa bei Magna. Offenbar ist die Logik von Kerngeschäft und Fremdvergabe doch nicht so zwingend.
Dass die Mitarbeiter die wichtigste und am wenigsten imitierbare Ressource seien, ist gängige Floskel im Personalmanagement. Das ist eigentlich trivial – was sonst? Aber wie passt dazu, dass man die Rekrutierung dieser Mitarbeiter fremdvergibt an Recruiting-Firmen, in denen mit Bewerbern im Halbstundentakt Videointerviews geführt werden – ohne die geringste Ahnung, worum es in den Jobs geht? Inzwischen hat man oft genug lernen müssen, dass man Technologien, die man nicht mehr selbst praktiziert, nach einiger Zeit nicht mehr versteht. Und man kann sich leicht täuschen: Wir haben in einem Unternehmen für Seniorendienstleistungen herausgefunden, dass nicht die Pflegekräfte und schon gar nicht das Management, sondern die Reinigungskräfte oder die Mitarbeiter der Küche diejenigen sind, die am meisten über die Zufriedenheit der Bewohner entscheiden. Ist uns das in der Wertschätzung der Mitarbeiter immer bewusst?
So komme ich wieder zurück zum Arbeitsethos der japanischen Reinigungskräfte und Zugbegleiter. Neulich hatte ich im ICE einen Platz ganz vorne, wo man dem Lokführer über die Schulter schauen kann. Irgendwo gab es dann einen Personalwechsel. Natürlich trugen die Lokführer keine weißen Handschuhe, sondern sahen eher so aus wie ich, wenn ich abends auf dem Sofa zur Fußballübertragung ein Bier trinke. Bei der Übergabe unterhielten sie sich vor meinen Ohren über ein technisches Problem und den Grund, warum der Zug mit reduzierter Geschwindigkeit fahren musste. Der neue Lokführer sagte: „Ach, genau diesen ICE bin ich gestern auch gefahren und er hatte auch schon dasselbe Problem. Ich habe ihn dann ins Werk nach xy gefahren, aber dort können die so etwas gar nicht reparieren.“ Ein anderes Mal hielt ein Regionalzug auf freier Strecke. Der Zugführer informierte die Fahrgäste im Minutentakt, dass er vergeblich versuche, die Leitstelle zu erreichen, nicht nur mit Zugfunk, sondern auch mit dem Privathandy. Er wisse auch nicht, wie es weitergehe. Und sowieso gehe alles den Bach runter. Nach normalen Maßstäben wäre ein solches Verhalten ein Fall für eine Abmahnung.
Ich habe neben der strukturellen Ebene bewusst auch diese persönliche Seite beschrieben, weil man nach einiger Zeit nicht mehr erkennen kann und es auch egal ist, was Henne und was Ei ist. Wie beim Broken-Window-Effekt erzeugt ein Missstand negative Verhaltensweisen, die wieder neue Missstände hervorrufen. Wem man erzählt, dass er austauschbar ist, der wird sich auch verhalten wie jemand, der austauschbar ist. Wem man sagt, dass er sich nicht mit seiner Arbeit identifizieren und sich nicht verantwortlich fühlen, sondern nur möglichst schnell und formell den detailliert vereinbarten Leistungskatalog abarbeiten soll, der wird sich genau so verhalten. Wem man sagt, dass er nichts zur Kernleistung (und damit nichts zum Erfolg des Unternehmens) beiträgt, der wird sich auch so verhalten. Das Fatale an diesem Teufelskreis: Menschen, die auf diese Weise Verantwortlichkeit verlernt haben, kann man nicht einfach Verantwortung übertragen. Und dann sind eben die Klos dreckig, die Ecken der Flure schwarz, die Pförtner unfreundlich, das Essen lieblos. Irgendwann verliert das Unternehmen in den Augen der Kunden (und der Mitarbeiter) seinen Charme, seine Besonderheit, seine Attraktivität. Und wie wir in Deutschland besichtigen können: Irgendwann funktionieren die Dinge einfach nicht mehr.
Ich sage gar nicht, dass die Lösung eindimensional ist und wir – wie in den früheren Industrieunternehmen oder gar in den Kombinaten der DDR – zu möglichst großer Fertigungstiefe zurückkehren müssen. Aber haben die Controller und Unternehmensberater, die das alles im Namen der Effizienz ausgeheckt haben, den Preis für diese Zusammenhänge in ihre schlauen Rechnungen einbezogen? Aus hautnaher Erfahrung kann ich sagen: Nein, das haben sie nicht.
Ich glaube, dass Unternehmen umdenken müssen und auch schon dabei sind. Aber eigentlich mache ich mir um Unternehmen in einer Wettbewerbswirtschaft am wenigsten Sorgen: Wenn die beschriebenen Missstände überhandnehmen, dann werden Unternehmen verschwinden und durch bessere verdrängt werden.
Mehr Sorge macht mir, wenn in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der politischen Diskussion die Rolle der Arbeit nicht mehr wahrgenommen und nicht mehr jede Arbeit gewürdigt wird. Wenn man etwa Stellenanzeigen für einfache Tätigkeiten analysiert, dann ist dort von allerlei blumigen Themen die Rede, aber selten von der Arbeit, um die es geht. Im gutgemeinten Vorsatz „Unsere Kinder sollen es besser haben“ und „Bildungschancen für alle“ haben wir „besser“ und „Chancen“ zu einseitig als Abschied von jedweder körperlichen Tätigkeit und als Hinwendung zu irgendeiner pseudoakademischen Tätigkeit verstanden, solange diese nur in einem Büro stattfindet. So entsteht eine Schicht, die nicht mehr wirklich etwas beiträgt; die keine Exzellenz mehr besitzt, auch nicht im Toilettenreinigen; die niemals die Extrameile geht, auch nicht, um das Papierchen auf dem Boden aufzuheben; die sich für nichts verantwortlich fühlt, aber die sich umso selbstbewusster für etwas Besseres hält und natürlich davon ausgeht, dass nach wie vor alles funktioniert, was man zum Leben braucht. Der nächste Schritt, der uns alle nervt, ist dann nur noch folgerichtig: Wenn man keine reale Nützlichkeits- und Wirksamkeitserfahrung besitzt, wenn man nichts mehr besser kann, dann ist der moralisierende Haltungskult dieser Schicht eine notwendige Waffe im Streben nach gefühlter Überlegenheit. Irgendwie witzig: Im Namen der Gendergerechtigkeit werden Pissoirs abmontiert, obwohl diese zur Hygiene beitragen. Man wird ständig ermahnt, sich auch als Mann beim Pinkeln hinzusetzen. Aber die Menschen, die für die notwendige Sauberkeit sorgen, soll es möglichst nicht mehr geben.
Zu meinem Erstaunen musste ich kürzlich lernen, dass diese unheilvolle Entwicklung nicht nur ein ungesteuerter Nebeneffekt ist. Nach Auffassung mancher Ökonomen sollen die Bestrebungen um einen möglichst hohen Mindestlohn nicht nur den Beschäftigten ein besseres Auskommen sichern, sondern durch die Verteuerung soll einfache (und pauschal für menschenunwürdig gehaltene) Arbeit generell verschwinden. Aus dieser Haltung spricht jedoch nicht nur eine Ignoranz gegenüber realen Leistungszusammenhängen, in welchen jedes Glied wichtig ist – siehe Japan. Es spricht daraus auch eine unerträgliche Verachtung gegenüber den Menschen, die diese Arbeit machen. So sozial und links diese Haltung daherkommt, es ist letztlich dieselbe Botschaft wie beim Outsourcing: Deine Arbeit ist unwichtig, kann auch von Maschinen gemacht werden, ist also unwürdig und muss weg.
Nach meinen japanischen Beobachtungen hätte ich folgenden Gegenvorschlag: Wer so wenig von den Leistungszusammenhängen eines guten Produktes, einer guten Dienstleistung, einer guten Unternehmenskultur und dem Funktionieren einer Gesellschaft versteht, dessen Tätigkeit hat keinen Mehrwert und keine Würde. Sie kann weg. Wer aber um uns herum alle die noch so kleinen und einfachen Tätigkeiten erledigt, die unser Leben erleichtern und zum Funktionieren des Gesamtsystems notwendig sind, dessen Arbeit hat Würde. Von mir aus ganz altmodisch mit Uniform und weißen Handschuhen.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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