Ungarn hat eine lange und ruhmreiche Tradition als Pferdenation, die bis in die Zeit der Landnahme im 9. Jahrhundert zurückreicht. Die ungarischen Reiter waren im 10. Jahrhundert für ihre Reit- und Bogenschießkünste bekannt und gefürchtet. Die Zeile „Bewahre uns, Herr, vor den Pfeilen der Ungarn!“ tauchte im Volksmund immer wieder auf und zeugt von dem Schrecken, den sie in Europa verbreiteten. Früher war das berittene Bogenschießen eine zerstörerische Kampfart, heute ist es Kampfkunst und Kampfsport zugleich.
Das Bogenschießen zu Pferde ist ein lebendiges Zeugnis der nomadischen Wurzeln der Ungarn und ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten als Reiter und Bogenschützen. Es spiegelt die enge Verbindung zwischen dem ungarischen Volk und dem Pferd wider.
Die altungarische Kampftechnik ist laut Lajos Kassai, dem renommierten Bogenbauer und Meister des berittenen Bogenschießens, einzigartig. In seiner ursprünglichen Form ist es nicht vergleichbar mit anderen internationalen Traditionen, erzählt Kassai in einem Interview.
In den 1980er Jahren hat der Landwirtschaftsmechaniker begonnen, Reiter-Bögen zu bauen, wie sie schon die alten Steppenvölker aus der Eroberungszeit hatten – allerdings aus Fiberglas. Damit hat er einen alten Traum verwirklicht. Er rekonstruierte den ungarischen Bogen und begann mit der Serienproduktion.
Ende der 1980er Jahre entwickelte er ein System von Wettbewerbsregeln für den Pferde-Bogen-Sport und begann, den neuen Sport zunächst in Ungarn und ab Anfang der 1990er Jahre in Europa, den USA und Kanada zu verbreiten. Heute gibt es in 18 Ländern Organisationen für das reitende Bogenschießen. Seit 2008 finden alle zwei Jahre Weltmeisterschaften statt. Seit 2011 ist der Sport Teil der Hochschulausbildung.
So hat er das berittene Bogenschießen, das bis ins frühe 19. Jahrhundert ein beliebter Zeitvertrieb des ungarischen Adels war, dann aber für eine Weile in Vergessenheit geriet, als Kampfkunst und als Kampfsport wiederbelebt. Kassai schlug einen Bogen von unseren nomadischen Wurzeln zu den Menschen des KI-Zeitalters. Der 64-Jährige hält selbst bereits fünf Weltrekorde. Der Bogenbauer wurde mittlerweile zum Ritter der ungarischen Kultur und erhielt den Preis für ungarisches Erbe.
Im malerischen Kassai-Tal bei Kaposmérő, südlich vom Balaton, liegt das Herz des Original-Kassai-Systems für berittenes Bogenschießen. Dieses einst verborgene Tal, das Lajos Kassai auf dem Rücken eines wilden Pferdes entdeckte, ist heute ein lebendiges Zentrum ungarischer Reit- und traditioneller Kampfkunst.
Das Tal beherbergt nicht nur den Wohnsitz des Bogen-Meisters, sondern auch ein beeindruckendes Ensemble an Artefakten und Relikten aus der Zeit der Völkerwanderung. Eine 180 Jahre alte kasachische Jurte und weitere historische Gebäude schaffen eine einzigartige Atmosphäre. Die Tierhaltung im Kassai-Tal folgt dem Grundsatz, Tiere ihrer Natur entsprechend zu halten. Freilaufende Tiere verschiedener Arten prägen die harmonische Umgebung. Seit seiner Gründung im Jahr 1988 zieht das Tal Besucher und Schüler aus aller Welt an.
Kassai betont, dass für das berittene Bogenschießen keine Hochleistungspferde erforderlich sind. Pferde mit einem gleichmäßigen Gang genügen, was diesen Sport zugänglicher macht, und erzählt selbst berührt die Geschichte von einem Pferd, mit dem das Ganze begann: In den 1980er Jahren investierte Lajos Kassai die Ersparnisse seiner Familie in ein verletztes Pferd, das zum Schlachthof gebracht werden sollte. Für ein gesundes Pferd hätte das Geld nicht gereicht. Das Tier war in einem erbärmlichen Zustand, hinkte auf allen vier Beinen und hatte eine große blutige Wunde am Hals, was darauf hindeutete, dass es von seinen Gefährten angegriffen worden war.
Kassai konnte das geschundene Tier aus Mitgefühl nicht seinem Schicksal überlassen und kaufte es zum Kilopreis, obwohl er damit riskierte, in seinem Dorf endgültig als verrückt abgestempelt zu werden. Dieses Pferd wurde zum Ausgangspunkt für das Kassai-System des berittenen Bogenschießens.
Für Kassai ist das berittene Bogenschießen weit mehr als eine sportliche Disziplin. Es ist eine Lebensform, eine Verbindung zur ungarischen Vorgeschichte und ein lebendiges Stück ungarischer Kultur. Es ist nach seinen Worten eine Reise zur Selbstentdeckung, verbunden mit dem Streben nach Harmonie mit sich selbst und der Welt.
Im Gegensatz zum traditionellen Bogenschießen am Boden, bei dem ein starres Ziel im Fokus steht, lehrt das berittene Bogenschießen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Die Verbindung mit dem Pferd schafft eine einzigartige Verbindung mit der Außenwelt, während der Bogen den Schützen mit seinem Inneren verbindet. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Einheit von Reiter und Pferd.
Kassai widmet sich nicht nur den Traditionen, sondern vertritt auch konservative politische Ansichten. Er betont, dass die Pflege von Traditionen nicht mit Rückschrittlichkeit verwechselt werden dürfe. Es geht für ihn darum, das Wertvolle aus der Vergangenheit zu bewahren und in die Gegenwart zu übertragen.
Er äußert sich besorgt über die Spaltung der ungarischen Gesellschaft und sieht eine gefährliche Kluft zwischen zwei sozialen Schichten: auf der einen Seite eine konservative Schicht, die tief in den Traditionen und Wurzeln des Volkes verankert ist, und auf der anderen eine innovative Schicht, die sich darüber erhebt. Diese Zweiteilung erinnert Kassai an die Bodenschichten, die durch jahrelange Bearbeitung mit dem Pflug erkranken, sich verhärten und miteinander nicht mehr in Berührung kommen. Der Traditionsbewahrer rät dazu, die Pflugtechnik zu ändern, damit die unterschiedlichen Schichten nicht noch mehr verhärten, sondern miteinander kommunizieren können und durchlässig werden.
Um die gesellschaftliche Kluft zu überbrücken, lädt er jedes Jahr vier bis fünf Menschen, „die sich in der anderen Bodenschicht befinden“, in sein Kassai-Tal ein. Er erkennt, dass „jeder in seiner eigenen Blase lebt“ und dass das ein Problem ist. Er möchte einen Raum für Austausch und Gespräche schaffen (statt Facebook „face to face“), um das gegenseitige Verständnis zu fördern.
Aus seiner Sicht beruhen die tiefen Gräben der ungarischen Gesellschaft auf generationenübergreifenden Problemen. Es gehe um kulturelle Unterschiede, betont er. Er ist der Meinung, dass die Politik zu tief in den kulturellen Raum eingedrungen ist und dadurch die Einheit der Gesellschaft gefährdet hat.
Kassai sieht die Demokratie als einen Seiltanz: „Fällt man nach rechts, gerät man in eine Diktatur, fällt man nach links, in die Anarchie“. Eine Nation muss aus seiner Sicht zur Demokratie reifen. Der Bogen-Meister glaubt an das Potenzial der Ungarn zu Zusammenarbeit und lädt auch in diesem Jahr alle Interessierten am 5. April ins Kassai-Tal zum Tag der offenen Tür ein, auch jene mit Vorbehalten gegenüber den Traditionen.
Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.
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