Das Feuilleton hat Eugen Ruge für diesen Roman gefeiert: Ein Buch wie ein Vulkan. Eine fulminant erzählte Zeitreise, eine ebenso abgründige wie komische Aufsteigergeschichte, ein eminent kluger Roman. Ich war trotzdem skeptisch. Nach In Zeiten des abnehmenden Lichts habe ich es mit Cabo de Gata und Follower versucht, aber nach dem Paukenschlag (Buchpreis 2011 für In Zeiten und später eine sehenswerte Verfilmung) fühlten sich diese Bücher eher wie ein leiser Geigenzupfer an. Gekonnt, ja, aber der große Schwung, das Mitreißende stellte sich nicht wieder ein.
Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna wollte ich gar nicht weglegen. Eugen Ruge findet eine Sprache, einen Rhythmus und Duktus, der fesselt. Der allwissende Geschichten- oder Geschichtsschreiber, der sich hinter der Wir-Form versteckt – als solcher nimmt uns Eugen Ruge mit in ein Pompeji, das der heutigen westlichen Welt in allzu vielem gleicht. Allein in der Vorrede steckt so vieles an Weltwissen, das nur ein Autor mit genügend Lebensjahren im Gepäck sammeln konnte:
Immer fühlen sich ja die Gegenwärtigen den Vergangenen überlegen. Immer glauben sie, es seien schon alle Fehler gemacht und sie selbst seien endlich angekommen bei der letzten Erkenntnis. Sie lachen über die verqueren Vorstellungen der Alten, fühlen sich abgestoßen von ihrer zurückgebliebenen Moral. Sie erfinden neues Kriegsgerät und neue Umgangsregeln. Sie halten ihr Wissen für gültig und sich selbst für vollendet. Sie begreifen nicht, dass auch sie nur Vorübergehende sind.
Der Roman ist gegliedert in sechs Teile oder 18 Rollen. Schriftrollen, fest verschlossen in einer Amphore und an unzugänglicher Stelle verwahrt, gedacht für jene, die nach uns die Erde bewohnen. Nicht der „Meute, die man Öffentlichkeit nennt“, soll der Bericht vom Ende Pompejis übergeben werden, „denn wir wollen frei sein in unseren Gedanken und Worten“. Mit feiner Ironie holt uns Ruge in eine Welt, die ihren Untergang mit verschuldet, wenn nicht sogar verdient hat.
Hauptheld ist Jowna alias Josephus alias Josse, ein Junge von ganz unten. Der Vater, ein Metzger, stirbt früh, die Mutter ernährt sich und den Sohn mit dem Flechten von Körben. Josse allerdings ist kein gewöhnlicher Junge. Schon als Vierjähriger fragt er sich, warum ernste, gut gekleidete Herren in der Großen Basilika, in der „die Demokratie stattfindet“, mit schwarzen und weißen Steinen würfeln, wie sein Vater ihm erklärt hatte. Und noch mehr beschäftigt ihn: „Wer durfte mitspielen? Sein Vater jedenfalls nicht.“
Josse wächst heran, und als 17-Jähriger hört er einen Vortrag des Griechen Georgios. Dessen These: Der Somma, Hausberg von Pompeji, sei ein Vulkan. Allerlei Vorzeichen wie tote Vögel und Wanderer deutet der Grieche ganz richtig: Noch schlummere der Feuerberg, aber es ist die Ruhe vor dem Sturm. Glauben wollen das allerdings die wenigsten. Anders Josse. Für ihn steht fest: Georgios hat Recht. Und Josse findet Mitstreiter, die ihm glauben, Pompeji verlassen und am Meer eine neue Stadt gründen wollen. Allerdings kommen die Auswanderer nicht über Zeltplanen und Lagerfeuer hinaus. Keiner will arbeiten, alle ergehen sich in endlosen Diskussionen. Angehörige verschiedener Denkschulen streiten über den Sinn des Lebens und dass es gut sei, wenn niemandem etwas gehört, aber eine neue Stadt entsteht nun mal nicht von schlauen Debatten allein. Niemand will anpacken. Das übernimmt später der geschäftstüchtige Polybius, der Josse überredet, Arbeiter zu bezahlen und Eigentum einzuführen in der neuen Siedlung am Meer.
So gewinnt Josse an Macht und wird zur Gefahr für die alte Macht in Pompeji. Diese jedoch ist listig und erfahren. Und weiß, wie man einen Aufsteiger einfängt. In Form von Livia, der schönen Frau des Stadthalters. Diese zieht im Hintergrund leise die Fäden, an denen die Politiker nach ihrem Willen tanzen. Mit Livia geht es für Josse ganz nach oben. Aber unter einer Bedingung: Er soll die Menschen dazu bewegen, in der Stadt zu bleiben. Der Vulkan sei doch gut für alle, und woher wollten Gelehrte schon wissen, ob er gefährlich ist.
„Das Problem ist“, wandte Josse vorsichtig ein, „dass ich monatelang versucht habe, die Leute zum Verlassen der Stadt zu bewegen. Wie soll ich ihnen jetzt weismachen, dass sie hierbleiben sollen?“ „Ach, die Leute.“ Livia zuckte mit den Schultern. „Die sind so vergesslich wie das Schilf! Niemand interessiert sich für das, was du gestern gesagt hast. Sie wollen wissen, was du heute sagst. Die politische Wahrheit, mein Lieber, ist keine Frage von Fakten und Beweisen. Ich glaube, du könntest eine Rhetorikausbildung gebrauchen.“
Die elfte Rolle mit der Überschrift „Die Kunst der Rede“ ist ein kleines Meisterwerk im Roman. Gewidmet der Rhetorik, die „im Reich noch immer als höchste und wichtigste Disziplin für jeden gilt, der, wie es heißt, etwas werden will“. Josses Lehrstunden beim Griechen Protagoras – aktueller geht es nicht. Ich stelle mir vor, wie Eugen Ruge sich beim Schreiben amüsiert hat, wenn er Protagoras sagen lässt:
Du musst nur begreifen, dass es nicht um Beweise, sondern um Vertrauen geht … Authentisches Auftreten, du selbst bist der Beweis! Deine Stimme muss sitzen. Deine Vokale müssen sitzen. Deine Haltung muss überzeugend sein … Alles ist eine Einheit. Es spricht der ganze Mensch … Eine Steigerung dieser, nennen wir es mal: Vertrauens-Werbung ist das Vertrauens-Ultimatum. Es ist eine Erpressung im freundlichen Gewand, sie lautet: Ihr kennt mich! … Ihr wisst doch, dass ich kein Lügner bin … Haltet ihr mich etwa für einen Lügner?
Josse lernt im nächsten Schritt, sich auf die Autorität anderer zu berufen und als Variante dieses „Autoritätsbeweises“ die „Spezialistenbehauptung“ kennen. Protagoras: „Sie besteht darin, dass du, bevor du sagst, was du sagen willst, behauptest, du seist darin ein Spezialist.“ Wunderbar auch die Erklärung des Lehrers zur rhetorischen Frage: „Hält man eine Rede, … damit der Zuhörer denkt? Oder redet man, damit er denkt, was wir denken? Das war, ich hoffe, du hast es bemerkt, eine rhetorische Frage.“ Genug der Zitate – man lese selber und staune, wie raffiniert eine der ältesten Künste ist, mit der auch wir Heutigen an der Nase herumgeführt werden.
Im Interview mit der Berliner Zeitung verrät Eugen Ruge:
Die Hauptfigur meines Romans „Pompeji“ ist durch Joschka Fischer angeregt, jemand, der von ganz unten kommt, ziemlich ungebildet, aber machtbewusst und intelligent, der es bis an die Spitze der Gesellschaft schafft, aber dafür seine Ideen und Freunde verrät. Und es fertigbringt, seine Wendungen als Akt der Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit oder Humanität zu verkaufen. Eine von Fischers Reden vor der Partei habe ich in meinem Buch zitiert: „Wollt ihr mich oder eure Träume?“
Pompeji geht am Ende unter. Daran kann kein rhetorischer Kniff, kein politischer Trick oder noch so viel Macht etwas ändern. Die Natur gewinnt, aller menschlichen Hybris zum Trotz. Die Tragödie nimmt ihren Lauf – und vielleicht ist Eugen Ruges Blick auf die Zukunft genauso präzise wie jener in die Vergangenheit: „In dieser Form wird der Westen auf jeden Fall untergehen“ ist sein Zitat, mit dem die Berliner Zeitung das Interview überschrieben hat.
Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. Dtv 2024, Taschenbuch 368 Seiten, 14 Euro
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