Streiten wir künftig mit den Vögeln ums Essen? In Anbetracht der steigenden Weltbevölkerung und Ressourcenknappheit, die das World Economic Forum (WEF) befürchtet, müssen wir laut WEF einen „grüneren Weg“ finden, um alle Menschen satt zu bekommen. Der Vorschlag: Man sollte Insekten in Massen züchten und in gemahlener Form verschiedensten industriell hergestellten Nahrungsmitteln wie Burgerpatties, Müsliriegeln, Nudeln oder Fertigbackwaren beimischen.
Das häufigste Pro-Argument sind meist die geringeren CO2-Emissionen, die Insekten erzeugen. Die Insektenhaltung ist platz- und futtersparender als die Tierhaltung in der konventionellen Landwirtschaft. Dennoch ist die Verarbeitung ziemlich aufwendig: Die Tiere müssen bei 25 bis 30 Grad Betriebstemperatur gehalten und dann bei minus 18 Grad gefriergetrocknet werden. Gemahlen geht es zur Weiterverarbeitung. Hierbei werden sie Lebensmitteln beigemischt, die dann in glänzender Plastikfolie verpackt im Supermarktregal landen – damit der nächste „grüne“ Influencer eine Story darüber machen kann, wie umweltbewusst sein Lebenswandel dank dieser Produkte ist.
Der Hauptfokus der gesellschaftlichen Debatte scheint auf die CO2-Bilanz gerutscht zu sein, weg von der Natürlichkeit des Produkts. Von der Moral sei ebenfalls abgesehen, denn immer mehr Studien zeigen, dass Insekten fühlende Wesen mit Bewusstsein sind, die Schmerz spüren können. Kontroverserweise befürworten nun oft jene Klimaschützer den Insektentrend, die vor Kurzem noch den veganen Lebensstil aus Rücksicht gegenüber den Tieren propagierten. Insekten in Massen zu halten, ist immer noch Massentierhaltung. Und genau das kann vor allem aus umwelttechnischen und gesundheitskritischen Gesichtspunkten zum Problem werden: Denn die Biodiversität komme aus dem Gleichgewicht, meint der Biologe Mark Benecke. Problematisch sei, nur ganz bestimmte Insekten als Nahrungsmittel zu züchten. „Alles, was wir aus dem Kreislauf des Lebens nehmen, ist biologisch einsam und geht ohne Kunstgriffe ein. Wenn ich nur einzelne Insekten züchte, werden diese beispielsweise blitzschnell krank, weil sich Erreger wie Käfer in einer Wald-Monokultur sofort ausbreiten. Gegen die Krankheiten brauche ich Gifte. Und die sind wieder industriell hergestellt.“ Gerade das müsste jeden Umweltschützer aufhorchen lassen. Denn das Insektensterben und das rasante Aussterben vieler wilden Arten wird jetzt schon massiv beschleunigt durch den Einsatz von Giften und Pestiziden. Insekten zum menschlichen Verzehr zu fangen, würde das Problem nicht verbessern, sondern das Ökosystem nur noch weiter aus dem Gleichgewicht bringen. Und außerdem: Die Annahme, dass bei der Zucht von Millionen Heuschrecken nicht auch ein paar Exemplare ausbrechen und sich in freier Wildbahn vermehren, wäre naiv. Noch mehr Schaden richten Insekten an, die in fremde Ökosysteme gelangen.
Insekten werden vom WEF und der Welternährungsorganisation FAO als proteinreiches Essen der Zukunft angepriesen. Bedenken liest man kaum, obwohl es noch nicht genug Forschungen gibt, die mögliche Risiken von Insektenmehl in Nahrungsmitteln für Mensch und Umwelt ausschließen.
Vor ein paar Jahren war das noch anders. Ein Beitrag von Deutschlandfunk Nova weist 2016 darauf hin, dass Insektenmehl nicht mal im Futter für die Nutztierzucht erlaubt ist. Hierbei handelt es sich um eine Maßnahme infolge der BSE-Krise, als Kühe erkrankten, weil sie mit den Überresten kranker Artgenossen ernährt wurden. Auch wird auf die Gesundheitsgefahr hingewiesen: Denn in den Fettkörpern der Insektenlarven können sich Schadstoffe wie Cadmium anreichern, das bei Menschen zu Nieren- oder Knochenschäden führen kann. Außerdem enthalten Insekten allergene Strukturen, die Allergien bis hin zum anaphylaktischen Schock auslösen können. Mitte Februar 2023 erschien ein neuer Beitrag von Deutschlandfunk Nova, der sich für das Essen von Insekten ausspricht. Dabei sind die Fragen immer noch nicht geklärt.
„Wenn es eine große Änderung in der Art und Weise gibt, wie Tiere gefüttert werden, würde ich mir eine zusätzliche Untersuchung wünschen, ob die Tiere irgendwelche Arten von Toxinen aus den Insekten ansammeln“, sagt Thomas Gremillion, Direktor des Instituts für Ernährungspolitik der Consumer Federation of America (CFA), in Bezug auf die Diskussion, Nutztiere mit Insektenmehl zu füttern. Sollten also nicht erst einmal Langzeitforschungen dazu gemacht werden, bevor Insekten gleich direkt in Lebensmitteln an Menschen verkauft werden dürfen?
Doch momentan können Insektenprodukte bereits auf den Markt kommen, die noch nicht die Kriterien der Novel-Food-Verordnung erfüllen, was die Allergenkennzeichnung und die Keimabtötung betrifft. Denn für Insektenprodukte gilt die Übergangsregelung VO (EU) 2015/2283, Art. 35 Abs. 2. Wenn ein Antrag auf Zulassung vorliegt, dürfen sie demnach weiterhin verkauft werden, bis über die Zulassung endgültig entschieden ist.
Ein weiteres, oft genanntes Argument fürs Insektenessen ist der hohe Proteingehalt. Dieser liegt laut Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung zwischen 35 und 77 Prozent. Zum Vergleich: Rindfleisch enthält laut Angaben der Verbraucherzentrale nur 22,3 Prozent, Schweine- und Hühnerfleisch 22,8 Prozent Eiweiß. Bei der Betrachtung der Nährstoffe, Vitamine und Mineralstoffe muss aber die verzehrte Menge berücksichtigt werden. Aktuell gibt es auf dem deutschen Markt vorwiegend Produkte, bei denen nur geringe Mengen Insektenmehl enthalten sind.
Laut Ökotest kommen in Deutschland verkaufte Produkte mit Insektenmehl, die als proteinreich vermarktet werden (wie beispielsweise Burgerpatties), jedoch nicht einmal auf den gesetzlich vorgeschrieben Mindestgehalt an Eiweiß, um sie als proteinreich bewerben zu dürfen. Dagegen liefern sie häufig zu viel Fett und Salz.
Außerdem ist noch nicht sicher, wie sich die neuartigen Zucht- und Futterverhältnisse auf die Insekten auswirken. Denn die Art des Futters kann die Nährstoffzusammensetzung von Insekten beeinflussen. Verlässliche Daten zu Vitaminen und Mineralstoffen sind noch sehr unvollständig. Eine Studie der Universität für Landwirtschaft in Nigeria belegt, dass Harlekinschrecken, die mit Kleie gefüttert werden, einen fast doppelt so hohen Proteingehalt aufweisen wie jene, die lediglich Mais fressen dürfen. Wenn die Insekten in Massenzuchtanstalten jedoch nur mit Soja, Weizen oder einer Substratlösung gefüttert werden, ist noch lange nicht klar, dass diese dann tatsächlich einen hohen Proteingehalt haben.
„Eine weitere Rolle spielt die Bioverfügbarkeit, also die Frage, wie gut der Mensch die Nähstoffe von Insekten überhaupt aufnehmen kann“, betont Anna-Kristina Marel vom Max-Rubner-Institut, dem Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe. Denn selbst wenn ein Produkt reich an Eiweiß, Eisen oder Omega-3-Fettsäuren ist, heißt das nicht, dass die Nährstoffe vollständig für den menschlichen Organismus verfügbar sind. Deshalb untersuchen Marel und ihr Team zurzeit im Reagenzglas, wie gut Proteine des Mehlwurms im Vergleich zu denen von Schweinen verdaut werden. Zwischenfazit der Forscherin: „In Sachen Bioverfügbarkeit von Insekten-Food befindet die Forschung sich tatsächlich noch ziemlich am Anfang.“
Noch vieles andere ist ebenfalls ungeklärt: Beispielsweise, ob einzelne Insektenspezies bestimmte Bakterienstämme in sich tragen, die für den Menschen gefährlich sein können. Gerade in die Massenzuchtanstalten, wo die Insekten auf engem Raum untergebracht sind – es existieren auch noch keine Haltungs- oder Nahrungsvorschriften – sind die Insekten anfällig für Krankheiten und den Befall durch Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten. Insekten besitzen auf der Körperoberfläche, aber vor allem im Darm zahlreiche Mikroorganismen. Insgesamt liegt der Anteil der mikrobiellen Biomasse, darunter auch krankmachende Keime, je nach Insektenart bei bis zu zehn Prozent. Da eine Darmentfernung nicht möglich ist, besteht also eine hohe Keimbelastung. Vorgaben bezüglich geeigneter Dekontaminationsverfahren gibt es bislang nicht.
Auch wer allergisch auf Krebs-, Weichtiere oder Hausstaubmilben ist, kann eine solche Reaktion ebenfalls nach dem Verzehr von Insekten zeigen. Hervorgerufen durch Chitin oder das Muskelprotein Tropomyosin. Problematisch können auch allergische Reaktionen auf Futtermittel der Insekten sein, etwa auf Soja oder Weizen. Wenn nun Insektenmehl in den verschiedensten Nahrungsmitteln auftaucht, die vorher allergenfrei waren, würde das für sehr viele Menschen eine Katastrophe bedeuten.
Doch nicht nur für Allergiker kann das Chitin im Exoskelett der Insekten bedenklich sein. Eine Studie der National Library of Medicine zeigt, dass Chitin das Immunsystem anspricht und Entzündungsprozesse anregt. Es ist noch nicht ausreichend erforscht, wie sich der Konsum von Chitin auswirkt, wenn wir regelmäßig Insekten in Nahrungsmitteln essen. Zwar gibt es viele Kulturen, die regelmäßig Insekten essen. Die Insekten aber in großem Stil auf diese Art zu züchten, zu verarbeiten und Lebensmitteln zuzusetzen, ist nichts anderes als ein großes Experiment.
Während ein Hersteller von Insektenriegeln damit wirbt, Chitin sei sogar gesund für den Verdauungstrakt, muss er gleichzeitig einräumen, dass Chitin die Nährstoffaufnahme behindern kann, da es Fette bindet und Vitamine wie A, K und D fettlöslich sind. Außerdem wurde festgestellt, dass das Exoskelett von Insekten geringe Mengen an Antinährstoffen enthält. Dabei handelt es sich um Substanzen, die die Fähigkeit des Körpers beeinträchtigen, Proteine aufzunehmen und zu verwerten. Sie können den Nährwert vieler Lebensmittel beeinträchtigen, besonders solcher aus Pflanzen wie Reis oder Mehl.
In Anbetracht all dieser ungewissen Auswirkungen, die die Einführung von industriell verarbeiteten Insekten auf unsere Nahrungskette haben kann, ist es fraglich, ob Insektennahrungsmittel so propagiert werden sollten, wie sie es zurzeit werden. Denn dass der Welthunger auch ohne das neue Wundermittel Insekten bei richtiger Ressourcenverteilung und bewussterem Umgang mit Lebensmitteln immens verringert werden könnte, müsste jedem klar sein.
Nun könnte man auf die Idee kommen, dass wir kollektiv insgesamt weniger und bewusster Fleisch konsumieren sollten. Dass wir wieder zurückkommen sollten zu regionalerem Lebensmittelanbau. Zu Tierhaltung und Verarbeitung in kleineren Betrieben, um ethischer und umweltschonender Fleisch zu produzieren. Dass dadurch die Menschen in Krisensituationen, bei zusammenbrechenden Lieferketten oder in Hungersnöten eigenständig ihr Überleben sichern könnten, anstelle auf Supermärkte angewiesen zu sein. Dass dadurch auch die langen Transportwege verkürzt und so Emissionen verringert werden könnten.
Doch stattdessen entfernen wir uns immer weiter von natürlichen, selbst erzeugten Nahrungsmitteln und setzen auf Massenprodukte aus Fabriken. Ob das der richtige Weg zu einer umweltbewussteren Ernährung ist, bleibt zweifelhaft.
Tamaris Kessler ist Studentin an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.
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