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Bericht | 20.12.2022
So leer ohne Bär
Eskapismus ist ein menschliches Grundbedürfnis. Doch vom deutschen Fußball lässt sich der Autor nur noch ungern in andere Welten entführen. Er versucht sein Glück beim Eishockey.
Text: Aron Morhoff
 
 

„Du hast dir die falsche Saison ausgesucht“, grölt mir Jan ins Ohr, damit ich ihn im tosenden Lärm einer vollgepackten Mercedes-Benz-Arena verstehen kann. Er kommt aus Zeuthen und hat seit einem Jahr eine Dauerkarte bei den Eisbären Berlin, dem Rekordmeister und aktuellen Champion der ersten deutschen Eishockeyliga. Noch vor zwei Stunden wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass sich unsere Leben kreuzen: Jan fährt nur für die Eisbären in die Stadt und ich meide Großveranstaltungen. Die Saison läuft mehr als schlecht, am heutigen Freitagabend sind die Nürnberg Ice Tigers zu Gast, die wie Berlin gegen den Abstieg kämpfen. Der Rekordmeister im Kellerduell? Eigentlich unvorstellbar.

Eine Stunde vorher. Auf dem Weg zum Stadion treffe ich Max, einen rotbackigen Teenager, der mit seinem Papa Dirk auf eine Entourage von Kumpels wartet, die noch einen Späti überfallen. Das Pilgern zum Stadion kennt keine Eile. Max und die Männer tragen „Kutte“ – zumindest im Fußball würde man das so nennen. Keiner trägt nur ein Trikot, sondern eine ganze Armada von Fanartikeln und Utensilien: Schal, Mütze, Trikot, Armband, in der Regel erst beeindruckend mit der Unterschrift eines Spielers.

Das Eishockey-ABC vor dem Spiel

Als ich Max gestehe, dass ich keine Ahnung von Eishockey habe, steckt er mir vor Anpfiff ein paar Grundregeln: Es gibt drei Drittel á 20 Minuten. Die beiden Pausen dauern 18 Minuten. Spieler können – wohl einmalig für eine Sportart – fliegend ausgewechselt werden. Statt gelben und roten Karten werden Fouls mit Zeitstrafen sanktioniert, vergleichbar mit dem Handball. „Und wo sitzt du?“, fragt sein Vater Dirk. Ich glaube, ich bin im Stehblock. Ich überprüfe die Karte und ergänze: „Hartmut-Nickel-Kurve“. Ein Schmunzeln kann Dirk nicht unterdrücken: „Da gibst du es dir aber gleich richtig.“ „Muss ich mir Sorgen machen?“, erwidere ich. „Nein, Quatsch, die sind alle ganz lieb. Das ist ein bisschen wie Familie hier.“ Der Satz soll sich als wahr erweisen.

Der Blick auf die Tabelle: Red Bull München rangiert unangefochten auf Platz eins. Eine Parallele zum Fußball drängt sich mir auf – Kommerz und Retortenvereine? Jan und Dirk verneinen. Die sind diese Saison gut, ja, aber eine Dominanz wie bei den Bayern im Fußball gibt es selten. Im Eishockey kann jeder jeden besiegen, regelmäßig schlagen die Underdogs die höher platzierten Clubs. Mit dem Dosenhersteller-Verein gibt es logischerweise Nicklichkeiten, aber mehr nicht. „Ich denke, wir sind da ganz entspannt“, sagt Dirk und spricht für die ganze Liga.

Die heiligen Hallen

Einlass und Kartenverkauf. Die Mercedes-Benz-Arena ist eine der modernsten Multifunktionshallen der Welt. Neben den Kollegen vom Basketball (Alba) wurden hier schon ein MTV-Award, eine Handball-WM und die größten Namen der Musikwelt beherbergt. Kartenlesegeräte scannen mein digitales Ticket, nach nur einer Minute in der Schlange bin ich in den heiligen Hallen. Noch ein kurzer Körperscan für die allgemeine Sicherheit und ich verschmelze mit der Masse.

Meine erste Empfindung ist leichte Scham: Mir fällt mein hierarchisches Sportverständnis auf, in dem erst Fußball kommt und dann lange nichts – völlig zu Unrecht. Die Fans sind grandios, die Atmosphäre ist atemberaubend: Tausende „Eisbären“ grölen, lachen, umarmen sich, schießen Selfies mit Maskottchen „Bully“ und lassen sich ausgelassen ins Wochenende treiben. Das erste Bier lässt nicht lange auf sich warten. In 20 Minuten ist Anpfiff.

Eine Rolltreppe führt zu den Rängen hinauf, wie eine Himmelsleiter. Mein Weg zum Stehplatz führt an Menschenschlangen vorbei, die sich gesittet an Essensständen um die Nahrungsaufnahme kümmern. Die Wand vor der Hartmut-Nickel-Kurve, benannt nach einem Ex-Cheftrainer und Eisbären-Spieler, ist mit Jahreszahlen, Eishockey-Fakten und Anekdoten geschmückt: eine Hall-of-Fame von Ehrenspielern, Pokalen und legendären Meisterschaften.

Eisbären

Beim finalen Eingang in die Eishalle offenbart sich mir die Größe des Stadions. Das Spielfeld wird noch von den Eisbearbeitungsmaschinen poliert, Beleuchtung und Akustik ist erstklassig. Das Stadion nicht ganz ausverkauft, aber gut gefüllt. Der Stadionsprecher heizt den Fans ein. Gesänge im Chor. Mit „Hey, wir wollen die Eisbären sehen“ erklingt die radiotaugliche Einlauf-Musik. Das Publikum reagiert mit Getrommel und versetzt das gegnerische Team in Ehrfurcht. Gekrönt werden die letzten Momente vor Spielbeginn von einem funkelnden Feuerwerk, das strahlenförmig an die Arenadecke geschossen wird.

Hoffnung

Der Puk fliegt, das Spiel läuft, die Eisbären gehen in Führung. Beim Torjubel und bei vielen Fangesängen fällt das Wort „Dynamo“ und ich erkenne den Schriftzug an allen Ecken und Enden. Verwundert frage ich meinen Nebensteher nach Rat und lerne Jan kennen: „Die Eisbären hießen bis 1992 Dynamo. Die nennen viele immer noch so.“ Das Beharren auf dem alten Namen erweckt in mir den Verdacht auf Ostalgie, aus heutiger Sicht fast schon „problematisch“. Der von mir überblickbare Ausschnitt der Fans an diesem Abend zeigt Arbeiter, Angestellte, Normalverdiener und Deutsche mit Tendenz zu Ur-Berlinern. Den Frauenanteil empfinde ich als relativ hoch, dafür recht wenige Kinder. Ein, zwei Mal höre ich Englisch, relativ wenig für Berlin. Die einzige Frau mit Kopftuch an diesem Abend ist vom Stadionpersonal.

In der ersten Pause schreite ich Richtung Ausgang, zu Anna, die zuvor meine Karte gescannt hatte, aber keine Ahnung hatte, wo meine Kurve ist. Sie sei neu hier, erfahre ich, es ist ihr zweites Spiel: „Ich find die Stimmung super. Ich mag keinen Fußball, aber Eishockey ist echt cool.“ Auch bei den Basketballspielen arbeitet Anna jetzt hier. „Das ist einfach krass, im Fußball wissen die Leute sogar über die zweite Liga Bescheid, in allen anderen Sportarten werden meistens noch nicht einmal Weltmeisterschaften verfolgt.“ Ob die Skandal-WM in Katar das Interesse an den Randsportarten steigert? Ich glaube nicht daran, auch wenn eklatant niedrige Einschaltquoten derzeit Gründe für die Annahme liefern.

Väterchen Frust

Der weitere Spielverlauf ist schlecht, die Eisbären vergeben oftmals vorm Tor und spielen leichtsinnig. Nach zwei Doppelschlägen der Ice Tigers ist Berlin im Rückstand, es steht jetzt 1:2. Die Stimmung ist gespalten, die Kurve peitscht die Eisbären im letzten Drittel an, das Spiel wird ruppiger. Den Gegner zu schubsen und gegen die Bande zu drücken ist im Eishockey noch harmlos und wird meistens nicht geahndet, erzählt mir Jan, der sich als guter Berater erweist: „Hier geht es ein bisschen anders zur Sache. Da gibt es schon auch mal Nasenbluten.“

Die Eisbären spielen zwar schwach, doch die Fangesänge reißen nicht ab. Aber es gibt auch Widerspruch, ich höre einen lautstarken Streit mit: „Was macht ihr denn? Was feiert ihr die denn noch, sollen wir erst absteigen?!“, schreit eine wuchtige Frau, die mir zuvor schon aufgefallen war, der Kurve entgegen. Das Dilemma zwischen bedingungsloser Unterstützung und berechtigter Kritik ist Dauerthema jeder Fanszene und trifft aktuell auch die Eisbären. Tendenziell überwiegt jedoch noch die Zuversicht, erfolgsverwöhnte Ansprüche und Allüren bringt niemand auf den Platz.

Der Anschlusstreffer fällt kurz vor Spielende, es steht 2:2. Danach ist Abpfiff. Ich gehe fest davon aus, dass das Spiel damit vorbei ist, doch man „tankt“ nochmal nach, die Stimmung kippt allmählich ins feucht-fröhliche, bleibt jedoch friedlich. Jan klärt mich wie immer auf: „Unentschieden gibt es nicht im Eishockey, jetzt kommt Sudden-Death, da gewinnt die Mannschaft, die ein Tor schießt.“

Weiter, immer weiter

Auch die Verlängerung bringt keinen Sieger, der Tod kommt weder plötzlich noch unerwartet. Penalty-Schießen, die Eisbären vergeben zwei Mal kläglich, die Ice Tigers stürmen freudentaumelnd den Platz, Rudelbildung. Die Eisbären-Spieler verlassen mit gesenktem Kopf den Platz. Ein weiterer Dämpfer für den angeschlagenen Verein, Schweigen im Stadion. Wie nach einer Beerdigung verlassen die Fans die Halle, man trottet hintereinander her, es ist niemandem nach Scherzen zumute.

Viel Zeit zum Verdauen bleibt den siegeshungrigen Eisbären nicht, denn die Uhren im Eishockey ticken schneller: Die Eisbearbeitungsmaschinen drehen schon in 48 Stunden wieder ihre Runden, dann steht das nächste Heimspiel gegen Düsseldorf an. Hier soll ein Sieg her. Ich verabschiede mich von Jan. Das Spiel am Sonntag wird sein vorerst letztes Erfolgserlebnis sein, danach folgen drei Niederlagen.

Die Eisbären sind ein bisschen wie Familie, hatte man mir vor Spielbeginn verraten. Und ein bisschen wie eine Gemeinde, denke ich und schließe mich dem Trauermarsch zur Warschauer Straße an.

Aron Morhoff ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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Bildquellen: Eisbären Berlin, Aron Morhoff