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Bericht | 19.12.2022
Mittelstand in der Dauerkrise
Energiekrise, Inflation, Sanktionen: Der ehemals wichtigste Treiber der deutschen Wirtschaft, der Mittelstand, steht vor historischen Herausforderungen.
Text: Flavio von Witzleben
 
 

Axel Turck schüttelt ungläubig mit dem Kopf: „Wir werden nach Strich und Faden beschissen“, sagt der Unternehmer aus dem Ruhrpott. Die Politik habe versagt, den Mittelstand in seiner größten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu retten. Axel Turck leitet das Familienunternehmen „Emil Turck GmbH“, eine Gießerei aus Lüdenscheid mit 60 Mitarbeitern, die über 400 Tonnen Guss pro Jahr an Unternehmen verkauft, die überwiegend aus dem Maschinenbau kommen. „Wir sind in hohem Maße von Gas und Strom abhängig, um das Aluminium herzustellen“, sagt Turck. „Wenn die Energiepreise um den Faktor vier bis fünf steigen, macht das die Kalkulation unserer Firma kaputt.“ Sie ist eines von zahlreichen Unternehmen, deren Existenz aktuell bedrohter denn je ist.

Turck

Der Mittelstand bildet das Herzstück des deutschen Wohlstands und galt als Synonym für Innovation, Unternehmergeist und technologische Stärke. Doch der Grundpfeiler des Erfolgs der deutschen Wirtschaft wackelt. Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg und der darauf folgenden Energiekrise steht der Sektor unter Beschuss – bereits die restriktive Corona-Politik hat zahlreiche Unternehmen an den Rand der Insolvenz gebracht. Nun sind es die rasant steigenden Energiepreise, die der Branche zu schaffen machen und für Verunsicherung und Existenznöte sorgen.

Rückgrat der Wirtschaft

Der deutsche Mittelstand ist mit seinen über drei Millionen Unternehmen für 60 Prozent aller Arbeitsplätze und für über 80 Prozent der Ausbildungsplätze verantwortlich. Die Unternehmen reichen – je nach Definition – vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum familiengeführten milliardenschweren Hidden Champion. Man kann getrost sagen: Geht es dem Mittelstand gut, so geht es Deutschland gut. Doch die aktuellen Entwicklungen stellen die Unternehmer vor massive Herausforderungen. Seit den Sanktionen gegen Russland ist die gute Stimmung vorüber. Das günstige russische Gas hatte den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg der deutschen Industrie gelegt. Nun sind die Gaspreise etwa zehnmal so hoch wie in den USA. Dazu kommen sanktionsbedingte Lieferausfälle sowie Materialengpässe. Eine aktuelle Forsa-Umfrage zeigt, dass jedes vierte größere mittelständische Unternehmen im produzierenden Gewerbe bereits die Produktion heruntergefahren hat oder dies kurzfristig plant. Auch eine Umfrage der DZ Bank kommt zu dem Ergebnis, dass die schwierige Lage zu Umstrukturierungen führen wird. So gaben zwei Drittel der befragten Mittelständler an, dass die gestiegenen Strompreise ihr Geschäft beeinträchtigen, bei Gas sind es sogar 55 Prozent. Sollte es im Winter zu einer Gasmangellage kommen, befürchten 44 Prozent erhebliche Beeinträchtigungen. 24 Prozent müssten Geschäftsbereiche schließen.

Ein Teufelskreislauf

Viele Mittelständler beklagen, dass die Politik an der Realität vorbei Entscheidungen trifft, die schwerwiegende Folgen für den täglichen Betrieb haben. Die Auftragslage sei katastrophal, so Axel Turck. Bereits 30 Prozent Rückgang, weshalb bestimmte Maschinen schon ausgeschaltet werden mussten. Dadurch werde zwar Energie gespart, jedoch kein Umsatz oder Gewinn erzielt, der nötig sei, um die laufenden Kosten wie beispielsweise die Gehälter der Mitarbeiter stemmen zu können. Ein Teufelskreislauf: Hohe Energiekosten verringern zwangsweise die Produktion und führen zu höheren Preisen. Diese werden zunächst noch von den Unternehmen getragen, jedoch zeitnah an die Endverbraucher, sprich die Bürger und Konsumenten abgegeben, um nicht in Schieflage zu geraten. „Wir brauchen daher einen Preisdeckel für Gas und Strom, sonst bringt uns das um“, fordert der Unternehmer, der noch wirklich weiß, was es heißt, Hand anzulegen.

Gift für die Wirtschaft

Die prekäre Lage spüren auch die Verbände. Dr. Hans-Jürgen Völz, Chefvolkswirt des Bundesverbands Mittelständische Wirtschaft (BVMW), sagt, dass Unternehmen aus dem Mittelstand im Gegensatz zu den großen, international agierenden Unternehmen auf den Standort und dessen Bedingungen angewiesen sind und die Produktion nicht einfach ins Ausland verlegen können und dies auch nicht wollen. Unternehmen klagen über Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und mangelnde Klarheit. Als Ursache nennt Völz die restriktive Corona-Politik der Bundesregierung, die mit überflüssigen Lockdowns die Unternehmen in Schwierigkeiten gebracht habe. Der Verband, der nach eigenen Angaben rund 55.000 Mitglieder zählt und die Interessen der mittelständischen Wirtschaft vertritt, steht in direktem Austausch mit den Entscheidungsträgern aus der Politik. Die Gespräche seien konstruktiv verlaufen, doch es habe an wirklicher Kooperation und Zusammenarbeit mit dem Mittelstand gefehlt, so der Volkswirt. „Im Mittelstand kommt vom Sondervermögen der Bundesregierung zu wenig an.“ Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Ende September mit einem von ihm als „Doppelwumms“ bezeichneten Hilfspaket 200 Milliarden Euro Sondervermögen angekündigt, um Unternehmen und Verbraucher vor hohen Energiepreisen zu schützen. Davon profitieren aber in erster Linie große Unternehmen und Haushalte. Mittelständler, die stark gestiegene Energiepreise nicht in vollem Umfang an die Kunden durchreichen können, sind gezwungen, Aufträge abzulehnen. „Das ist Gift für die deutsche Wirtschaft“, so der Ökonom. „Auch von den 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Ertüchtigung der Bundeswehr kommt im wehrtechnischen Mittelstand zu wenig an. Davon profitieren ganz überwiegend Rüstungskonzerne – Unternehmen wie Rheinmetall oder Krauss-Maffei Wegmann“, sagt Völz. Der Mittelstand kommt wie so oft nicht zum Zuge.

Bezug zur Realität verloren

Der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck sorgte kürzlich für Aufsehen, als er in einer Talkshow feststellte, dass Unternehmen, die „erstmal aufhören zu produzieren“, nicht automatisch insolvent seien. Sie könnten ja später die Produktion wieder hochfahren. Axel Turck hat aufgrund solcher Aussagen das Vertrauen in die Politik verloren: „Die Politiker haben den kompletten Bezug zur Realität verloren, die wissen gar nicht, wie so ein Betrieb funktioniert. Wenn kein Umsatz kommt, ist das Konto irgendwann leer.“ Turck sagt, was zahlreiche Ökonomen ebenfalls bestätigen: „Wir befinden uns in einem Prozess der Deindustrialisierung.“ Doch wie soll es in Anbetracht all der Krisenherde weitergehen und welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um dem wirtschaftlichen Niedergang entgegenzuwirken?

Bürokratie abbauen

Hans-Jürgen Völz hält die sich abzeichnende Rezession für nicht zwangsläufig, sie hänge vielmehr auch vom politischen Willen ab. Ein wesentlicher Ansatzpunkt, um Unternehmen zu entlasten, sei der Bürokratieabbau. „Es gibt seit Jahren eine Erhebung des Statistischen Bundesamts, in der die gesamten Bürokratiekosten gemessen werden, und diese liegen bei über 51 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft, Tendenz steigend“, sagt Völz. Wenn es parteiübergreifend ein gemeinsames Bestreben gäbe, für effektive Entlastung zu sorgen, „dann wäre den Unternehmen sehr geholfen“. Es liege am politischen Willen, sich von alten Zöpfen zu trennen.

Von „alten Zöpfen“ muss sich auch Axel Turck möglicherweise bald trennen. Denn wenn die Politik weiterhin an ihrem Kurs festhält, könnten auch in seinem Unternehmen demnächst die Lichter ausgehen. Turck ist aber Optimist: „Wir haben Krisenzeiten immer gut überstanden, zwei Weltkriege überlebt – ich glaube, wir schaffen das.“ Ob er tatsächlich ein weiteres Jahr Ampel-Regierung überstehen wird, bleibt abzuwarten.

Flavio von Witzleben ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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Bildquellen: Gerd Altmann_Pixabay; Axel Turck