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Rezension | 29.11.2023
Journalismus-Dokumente
Burkhard Müller-Ullrich und Boris Reitschuster belegen, dass ihr Berufsstand versagt – in den 1990ern genau wie heute.
Text: Michael Meyen
 
 

Was ist ein Buch, wenn die Presse die „vierte Gewalt“ sein soll? Und wenn sie das nicht ist: Was kann ein Buch ausrichten gegen das Trommelfeuer, mit dem uns die Staatsmedien tagein, tagaus eindecken? Die Antworten liegen auf der Hand. Bücher bleiben. Bücher lassen sich nicht löschen und auch nicht einziehen, jedenfalls nicht komplett. Irgendwo wird ein Exemplar die Stürme selbst dann überdauern, wenn die Auflagenzahl nur drei- oder vierstellig ist und viele Besitzer den Schritt vom Kaufen zum Lesen ausgelassen haben. Bücher konkurrieren nicht mit der Wucht der Aktualität. Sie kommen auf leisen Sohlen und entziehen sich so auch jeder Wirkungsforschung. So ein Buch steht im Schrank und gibt auch dann noch Zeugnis, wenn sein Autor längst gestorben ist.

Burkhard Müller-Ullrich ist auf Nummer sicher gegangen und hat seine Medienmärchen von 1996 einfach noch einmal drucken lassen. Dazu fünf Seiten „Vorwort. 27 Jahre später“ und drei Seiten von Uwe Tellkamp, die man am liebsten komplett abschreiben möchte. Wer Tellkamps Romane gelesen hat, der weiß, wovon ich spreche. Sätze, die nicht aufhören und am besten auch nie aufhören sollten. Tellkamp über BMU, den er bei indubio getroffen hat, dem Podcast der Achse des Guten, „also auf der schwarzen Seite der Tausendundeinenachtabteilung, bei den gebrannten Kindern, den Abweichlern von jenen Kursen, die seit etwa 2015 auf der Weißen Seite, der einzig anständigen, erlassen werden“ (S. 9): „ein Nachrichtenforscher, ein Zweifler, der auch, schien mir, an der Verkommenheit seines Berufsstands verzweifelte, an der Dummheit, Eilfertigkeit, an der Schluderei, dem schieren Unfug, der tagtäglich geschrieben und gesendet wurde, am mangelnden Sichmühegeben, was gern mit Zeit- und finanziellem Druck entschuldigt wird, aber allzu oft nur ein Ausdruck mangelnder Achtung ist: vor dem Menschen, über den man etwas bringt, vor der Möglichkeit, sich zu irren, vor der Verantwortung gegenüber der Wahrheit und dem Anspruch, wenigstens danach zu suchen“ (S. 11).

Müller-Ullrich muss da gar nicht viel ergänzen. Das Internet natürlich, das zu „einer großflächigen Veränderung im Journalismus“ geführt (S. 12) und aus dem, was man in den 1980ern und 1990ern noch als „Einzelphänomene“ und mit Humor sehen konnte, ein „Systemversagen auf breiter Front“ gemacht habe. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich keineswegs mit „Geldmangel“ herausreden könne. Das „gesinnungsmäßige Mainstreaming“ (S. 13). Bei meinen Vorträgen werde ich oft gefragt, wann das alles angefangen hat. Wann der Raum des Sagbaren kleiner geworden ist. Wann aus Journalismus Propaganda wurde. In der Regel schwingt dabei die Hoffnung mit, dass früher alles besser war, ein wenig zumindest. Heute sage ich: Lest die Medienmärchen von BMU. Waldsterben, Tschernobyl, Brent Spar. Die Älteren werden sich erinnern – auch an Bosnien, Lübeck und die Toten der rumänischen Revolution. Ich habe 1993 als Fest-Freier in einer Nachrichtenredaktion des MDR angefangen und bald auch für ein Regionalblatt geschrieben. Afghanistan und der Rinderwahn haben diese Karriere beendet. Was meine Interviewpartner, hochrangige Experten, zu sagen hatten, passte nicht ins Narrativ der Macht und ich folglich nicht mehr zu dem, was sich auch damals für Journalismus hielt.

Boris Reitschuster, das ist jetzt ein großer Sprung, hat das ganz ähnlich im September 2018 erlebt. Ein heftiger Shitstorm, schreibt er. „Mein Verbrechen: Ich hatte über die Ängste einer Frau aus der Mitte der Gesellschaft berichtet“ (S. 18). Ende 2019 gerät er mit Patrick Gensing aneinander, seinerzeit „ARD-Chef-Faktenfinder“. Anlass ist ein Tweet mit Foto und Gensing-Zitat: „Ich glaube, dass man die Leser eher gewinnen kann, wenn im Journalismus eine Haltung vertreten wird, als wenn da einfach nur Fakten angehäuft werden. In meinen Augen ist das auch überhaupt nicht Journalismus“ (S. 21).

Das Gerichtsverfahren gegen Gensing bekommt viel Raum in diesem Reitschuster-Buch. Ein Sieg, sicher, vor allem aber der Start für eine Erfolgsgeschichte, die aus dem einstigen Focus-Mann in Moskau einen Reichweitenkönig der Milieumedien macht. Ich muss das hier nicht alles wiederholen. Die Coronamärchen der Leitmedien sind noch genauso in Erinnerung wie all das, was Boris Reitschuster erdulden und erleiden musste, weil er das tat, „was sich für einen Journalisten gehört: Er muss sich selbst ein Bild machen von dem, was geschieht“ (S. 30). Reitschuster nimmt uns noch einmal mit in die Bundespressekonferenz, wo er Regierung und Kollegen ab Oktober 2020 mit seinen Fragen nervte, und zu den unzähligen Demos, wo er live dabei war und uns miterleben ließ, was dort passierte.

Es ist gut, dass es dieses Buch gibt. Es ist gut, dass Boris Reitschuster zum Chronisten seiner selbst geworden ist und all das festgehalten hat, was manche immer noch nicht wahrhaben wollen. Die Polizeigewalt, auch gegen kritische Journalisten. Rufmordkampagnen, die bis ins Private gehen und alle mitreißen, die sich mit dem Opfer solidarisieren. Die Ohnmacht vor Gericht. YouTube-Zensur. Kontosperrungen. Die Zerstörung der ökonomischen Basis, die auch der freieste aller freien Journalisten braucht. Paypal, Steady, schwarze Listen für die Werbung. Ein Blumentopf, der ohne Angst vor Strafe geworfen werden kann.

Wer Reitschusters Seite regelmäßig gelesen hat, kennt all diese Geschichten. In Buchform wird daraus eine Anklage, die auch deshalb authentisch ist, weil die Zustände in seiner Heimat diesen Journalisten krankgemacht und nach Montenegro vertrieben haben. Der „Störsender“ Reitschuster (Überschrift für eine Seite-Drei-Geschichte in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Februar 2021) verweist das Gerede von Pressefreiheit und „vierter Gewalt“ in das Reich der Medienmärchen und trifft sich dort mit Burkhard Müller-Ullrich.

Boris Reitschuster: Meine Vertreibung. Berlin: Achgut Edition 2023, 214 Seiten, 22 Euro

Burkhard Müller-Ullrich: Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus – eine Wiedervorlage. Dresden: Edition Buchhaus Loschwitz 2023, 188 Seiten, 19 Euro

Bildbeschreibung

Bildquellen: 51581 @Pixabay