657b14f8bd3ca9933e1e79543931f9b1
Medien-Tresen | 24.10.2025
Von den Kunos zur KI
Eine persönliche Zwischenbilanz nach 25 Jahren im Journalismus. Rausfahren, Menschen treffen: Das macht den Beruf aus. Immer noch.
Text: Helge Buttkereit
 
 

Diesen Sommer habe ich mit leichtem Erschrecken festgestellt: Ich arbeite bereits seit einem Vierteljahrhundert als Journalist. Und dann habe ich mir gedacht: Das ist doch mal ein Thema für den Medien-Tresen. Es wird also heute nicht wie üblich um Kritik am Mainstream gehen, um eine Analyse der Zensur oder anderer aktueller Entwicklungen. Sondern es gibt einen persönlich gefärbten Rückblick auf 25 Jahre im Journalismus. Mit Lokalzeitung, Deutschlandfunk, Alternativmedien und Mainstream. Und mit sehr viel Veränderung.

Meine journalistische Karriere startete im Sommer 2000 in der Lüneburger Heide. Nein, nicht mit Heidschnucken. Über den Mr. Müden, den besten Bock seines Jahrgangs, durfte ich einige Jahre später beim Volontariat bei der Celleschen Zeitung schreiben. Das kommt gleich. Meine „Karriere“ begann in Lüneburg mit Kunos, wie die Redaktion ihre Kurzmeldungen nannte. „Kurz notiert“, die Veranstaltungshinweise aus Stadt und vor allem Land, denn ich war für den Landkreis zuständig. Orte, Zeiten und ein wenig mehr. Absolutes Schwarzbrot des Journalismus. Hier kann man nicht viel richtig, aber dafür viel falsch machen. Ein falscher Termin in der Zeitung – und die Landfrauen rufen an. Oder der Pastor. Die Kernleserschaft.

Bildbeschreibung

Volle Konzentration auf die Meldungsspalte, die inzwischen vielerorts auf der Streichliste steht. In Zeiten von KI, E-Paper und „digital first“, in denen Zeitungen alles erst auf die Website stellen und dann zuweilen Tage später ins Zeitungslayout fließen lassen, fallen die kleinen Ereignisse auf dem Dorf hinten über. Das klicken zu wenige, und so müssen sich die Menschen über WhatsApp-Gruppen oder Dorf-Apps informieren. Viele Dörfer haben faktisch keine Zeitung mehr. Immerhin: Die Kunos gibt es bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide noch.

Damals vor einem Vierteljahrhundert war die Zeitung noch wer, musste aber das Blatt im Sommer voll bekommen. Und so durften die Leser ran. Nein, die Zeit von Web 2.0 war noch nicht gekommen, es war eher Web 0.5, denn wenn überhaupt etwas auf die Website der Zeitung kam, dann nur ganz wenig. Die Erinnerung streikt an dieser Stelle, das Webarchiv hat aus dem Sommer 2000 auch nichts behalten. Aber im Papierarchiv ist einiges von damals. Unter der Überschrift „Die Zeitung hilft“ konnten die Leser Themen einreichen. Und wir recherchierten. Leser-Blatt-Bindung im besten Sinne.

Der renitente Rentner durfte sich endlich einmal in der Zeitung über die Schnellfahrer in der Spielstraße aufregen (womit er natürlich recht hatte) – und mein Bild wurde erstmals gedruckt. Ich schrieb aber auch über die dritte Schwalbenbrut im Herbst und ein Klassentreffen nach vielen Jahren. Ich fuhr raus, fotografierte, sprach mit den Leuten. Ich tat also das, was den Lokaljournalismus so abwechslungsreich und interessant macht. Denn ein Heidschnuckentag in Müden, um das Thema noch einmal aufzugreifen, ist vor Ort ein Großereignis. Im Sommer 2005 war ich dann während meines Volontariats in der Lokalredaktion der Celleschen Zeitung dabei. Ich stand in der ersten Reihe am Ring, begutachtete die Böcke und sprach mit dem Käufer des Siegers, Mr. Müden. Das bewegt zwar nicht die Welt, aber immerhin die Heide. Und das Bild, auf dem die Schäfer den Bock zwischen die Beine nehmen, wird gern gedruckt – auch über die Heide hinaus. Am Medien-Tresen schenke ich mir in Erinnerung an die alten Zeiten in der Fachwerkstadt ein Glas Celler Pilsener ein und schaue weiter zurück.

Zwar war ich bereits seit 2000 Redakteur eines reinen Internet-Mediums: Der Schallplattenmann brachte jeden Montag per Newsletter Rezensionen aus der Musikwelt unter die Leute. Aber wichtig war (noch), was gedruckt war. Am Abend gestaltete ich in Celle die Zeitungsseite, am Morgen freute ich mich, wenn der Briefschlitz in der Haustür klapperte und die neue Ausgabe des eigenen Blatts zu Boden fiel. Oftmals holte ich sie mir sofort und schaute nach meinen Artikeln. Natürlich kannte ich sie, Änderungen gab es nach meiner Abgabe so gut wie nie – im Lokalen hatte niemand Zeit, noch einmal alles genau nachzuprüfen –, aber das Gefühl, das eigene Werk in den Händen zu halten, war etwas Besonderes.

Über die Jahre hat sich das natürlich relativiert, aber es bleibt zumindest für mich ein Unterschied, ob etwas im Netz steht oder gedruckt ist. Apropos Internet: Bei der Zeitung gab es damals ein Kuriosum, das heute kaum noch denkbar scheint. Als Volontär hatte ich keinen Zugriff auf das World Wide Web. Sicher, die lokale Recherche war damals im Netz noch nicht so gut möglich wie heute. Wer hatte schon eine Internetseite? Ich musste telefonieren. Vom Festnetz aufs Festnetz, versteht sich. Handyanrufe bekam ich höchst selten, Diensthandys gab es nicht, und das Smartphone war noch nicht erfunden. Höchstens Politiker wurden auf dem Handy erreicht, ansonsten wartete man und wurde zurückgerufen. Es war ja auch nicht nötig, in der nächsten Stunde online zu gehen. Redaktionsschluss war am Abend für den nächsten Morgen.

All das hat sich heute geändert, wo manche Themen – wenn sie gut geklickt werden – mehrfach am Tag ausgespielt werden und man sich als Leser fragt, warum schon wieder etwas zum Thema kommt, während sich der Inhalt kaum ändert. Artikel werden heute auch abseits der Ticker quasi live weitergeschrieben, Stimmen nachgetragen und Texte verbessert. Was ja auch kein Wunder ist, bei der Geschwindigkeit passieren Fehler. Was nicht heißt, dass es früher keine Fehler gab. Ganz im Gegenteil. Kurz vor Weihnachten waren die Seiten voller Anzeigen, wir hatten damals vor 20 Jahren viele Seiten und wenig Mitarbeiter. Und natürlich wurde gespendet. „Irgendwer spendet schon irgendwas“, schrieb der Kollege in den Kasten mit der Bildmeldung – ein Genre, das wie die kurzen Notizen heute fast ausgestorben scheint: ein Bild und drei bis vier Zeilen Text. Damals spendete auch irgendwer irgendwas. Es gab Bild und Text. Und die Überschrift vom Morgen: „Irgendwer spendet schon irgendwas.“ Der Kasten war voll, niemand hatte es gesehen. Bis zum nächsten Morgen. Und da stand es dann. Den ganzen Tag lang. Die Zeit der gedruckten Zeitung, sie hatte nicht nur Vorteile.

Auch heute wird noch gedruckt, und die Zeitungen experimentieren mit der KI. Sie kann Kurzmeldungen schreiben, eine Kuno-KI ist kein Problem. Wenn man ihr die richtigen Daten gibt, kommt etwas halbwegs Brauchbares dabei raus. Zeitungsverlage wie die Nordwest Zeitung nutzen auch schon die KI für die Befüllung der immer weniger geliebten Print-Ausgaben. Irgendwer muss die Seiten, die die alten Leser noch gedruckt haben wollen, ja gestalten. Denn derzeit ist die taz an dieser Stelle nur ein Vorreiter. Sie hat seit einer Woche ihren Charakter verloren, denn eine „Tageszeitung“ im klassischen Sinne ist sie nicht mehr, es gibt nur noch am Wochenende ein gedrucktes Exemplar. Übrigens war die taz (fast) die erste Zeitung, die ich Mitte der 1980er Jahre regelmäßig las. Bei uns zu Hause lag sie neben der Lokalzeitung. Opposition – das war die taz damals noch – und Mainstream, das lag bei mir schon damals nebeneinander.

Auch als freier Journalist schrieb ich ab 2006 zum einen für Mainstream-Medien wie den Deutschlandfunk oder das Hamburger Abendblatt und zum anderen für „alternative“ Medien. Für die junge Welt, das Neue Deutschland, das Magazin Hintergrund und amerika21.de berichtete ich beispielsweise von der Parlamentswahl in Venezuela 2010, für das Abendblatt schrieb ich Reportagen aus dem Alltag der Menschen vor den Toren Hamburgs: Müllwagen, Essen auf Rädern oder unterwegs mit der Streifenpolizistin.

Bildbeschreibung Bild: Helge Buttkereit (ganz links mit Block und Stift) 2010 in Venezuela für einen Fabrikbericht

Ich war 2007 bei der Handball- und der Straßenradsport-WM vor Ort, porträtierte 2014 den wohl letzten lebenden Wehrmacht-Deserteur aus Bremen, traf auf Sylt den Sternekoch Jörg Müller und in Berlin die britischen Songwriter Billy Bragg und Ray Davies von den Kinks. Davies stellte sein Album „Other Peoples Lives“ vor. Und genau das ist es auch, was den Journalismus ausmacht. Geschichten von ganz vielen „normalen“ Menschen erzählen. Zu den Menschen fahren und über sie berichten, das kann keine KI ersetzen. Der Journalist, der nur am Schreibtisch vor dem Computer sitzt, wird nichts Neues erfahren, nichts Überraschendes erleben. Wer hingegen rausfährt, wird neben der einen Geschichte, die er schreiben wollte, vom Einsatz vor Ort noch einiges mehr mitbringen, das es zu recherchieren gilt. Wer auch in diesen Zeiten etwas mit Medien machen will, nehme sich also ein Aufnahmegerät, eine Kamera und einen Schreibblock und fahre raus. Es gibt vieles zu berichten. Darauf noch ein Celler Pilsener. Prost!

Helge Buttkereit ist Historiker, freier Journalist und derzeit in der Öffentlichkeitsarbeit tätig.

Freie Akademie für Medien & Journalismus

Unterstützen

Newsletter

Bildquellen: Schuhstraße in Celle 2025. Foto: Jorge Franganillo, CC BY 4.0