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Medien-Tresen | 31.01.2025
Vom Bock zum Gärtner
Fünf Jahre nach den ersten Corona-Fällen in Deutschland soll endlich aufgearbeitet werden. Sagen Politiker und Medien. Aber in welche Richtung?
Text: Helge Buttkereit
 
 

Der Bock will sich zum Gärtner machen, der Spalter zum Versöhner. Frank Walter Steinmeier droht: Wenn die Parteien keine Corona-Aufarbeitung hinbekommen, dann mache er es eben. Steinmeier hat im Interview mit dem Stern gesagt, dass er selbst eine Kommission einsetzen wolle, wenn der kommende Bundestag das nicht schafft. Steinmeier? Für ihn gilt, was Ben Krischke im Cicero bereits 2022 schrieb: „Man kann nicht mahnen und einen, während man gleichzeitig stigmatisiert.“ Oder, wie man in der Rückschau sagen muss, man kann nicht aufarbeiten, wenn man seine eigene Rolle nicht kritisch reflektiert. Dass er das nicht tut, wird im Interview deutlich.

Steinmeier hat im November 2021 behauptet: „Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, und sie gefährden uns alle.“ Anfang 2022 sagte er in Richtung der Demonstrationen gegen die Maßnahmen, die eine Minderheit darstellten: „Es gibt sie, die große Mehrheit der Vernünftigen in unserem Land, Menschen, die Verantwortung für andere zeigen!“ Steinmeier war immer ein Präsident der vermeintlichen „Mehrheit“, der die „Minderheit“ altväterlich von oben herab ermahnte. Er ist heute überzeugt: „Neben dem, was hätte besser laufen können und müssen, haben wir offenbar vieles richtig gemacht. Es gibt auch die positiven gesellschaftlichen Aspekte, die uns Mut machen können: Die Mehrheit war immer bereit, Rücksicht zu nehmen auf andere.“ Ein wenig Kritik darf sein, auch vom Präsidenten: Ja, die Schulschließungen und der Umgang mit der Jugend waren ein Problem, Leseverbot auf Parkbänken ebenfalls, ansonsten sind „wir“ gut durchgekommen. So banal wie erwartbar dürfte die Aufarbeitung im Schloss Bellevue ausfallen. Was trinken wir darauf heute am Medien-Tresen? Des platten Wortwitzes wegen haben wir Bock auf ein Winterbock. Ein starkes, süffiges und würziges Bier, mit dem man das Elend ertragen kann.

Wenn es um Corona geht, ist ein Karl Lauterbach nicht weit. Auch er fordert im Deutschlandfunk Aufarbeitung. Der Oberbock würde wohl am liebsten den ganzen unbearbeiteten wilden Garten der Aufarbeitung abgrasen, so dass nichts mehr übrigbleibt. Seine Antwort auf die Einstiegsfrage, ob mehr richtig oder falsch gemacht worden sei, war dann auch erwartbar: „Wir haben ganz klar mehr richtig gemacht.“ Die Regierung habe die Bevölkerung relativ gut geschützt. Mehr muss man nicht hören.

Viele Bürger sehen es anders. Das ergibt zumindest eine aktuelle NDR-Umfrage. Demnach sagen knapp zwei Drittel der Befragten, dass mehr Aufarbeitung nötig wäre. Die Bewertung der Maßnahmen ist nicht ganz ausgeglichen, während sie für 44 Prozent (aus heutiger Sicht) zu weit gingen, sehen sie 49 Prozent als angemessen und 6 Prozent gingen sie nicht weit genug. Zur Zeit der Maßnahmen selbst sahen diese 54 Prozent der Befragten als angemessen, 34 Prozent gingen sie zu weit und 11 Prozent hätten noch härtere Maßnahmen befürwortet. Interessant ist also, dass die Menschen in der Rückschau sich selbst reflektieren. Das wäre eine gute Basis für wirkliche Aufarbeitung von unten. Darauf noch einen Winterbock.

Nicht von unten, sondern von oben kommt der unvermeidliche Christian Drosten. Die taz lud zum Interview, dessen Überschrift aufhorchen lässt: „Je mehr Zeit vergeht, desto skeptischer werde ich.“ Der Drosten hat sich mit der Skepsis also Zeit gelassen, kritisiert China, wo aus seiner Sicht allein die Frage nach dem Ursprung des Virus aufgeklärt werden könnte. Auf X kommentierte Elke Bodderas von der Welt: „Drostens Positionen mutieren rascher als das Virus“ und fragt, ob der Lancet-Brief zurückgezogen werde, der die Aufklärung über den Ursprung von Anfang an blockiert hat.

Eine Antwort darauf bekommen weder sie noch die taz, wobei diese die Frage lieber gleich gar nicht gestellt hat. Dort wird Drosten nur entgegengehalten, dass dieser vehement vertreten habe, „dass ein natürlicher Ursprung wahrscheinlicher ist als ein Laborunfall“. Drosten ist geschickt. Medienprofi halt. Er weicht aus: „Die Vehemenz wurde mir vielleicht nachgesagt, aber so war das nie. Ich habe einfach das wiedergegeben, was wir in meinem Wissenschaftsfach wissen. Und ich muss auch darauf hinweisen, dass sich die Datenlage seit 2020 weiterentwickelt hat und meine Bewertung ebenso.“ Er gibt also vor, lernfähig zu sein und verweist ansonsten auf „die Wissenschaft“. Dabei verschweigt er geschickt, dass er „anfangs am vehementesten die Möglichkeit eines nicht-natürlichen Ursprungs“ ausgeschlossen habe, so der Politologe Torsten Benner auf X. Das hatte mit Wissenschaft nichts zu tun. Stattdessen kritisiert Drosten im Interview, dass bei der Aufarbeitung die reale Gefahr vernachlässigt werde und Fehlinformationen kursieren. Bock? Gärtner?

Ein wenig Selbstkritik gab es an anderem Ort. In der Neuen Osnabrücker Zeitung kamen (mal wieder) ernsthafte Gärtner, Pardon, Gäste zu Wort. Im Expertengespräch standen unter anderem die Virologen Klaus Stöhr und Jonas Schmidt-Chanasit Rede und Antwort. Stöhr sagte: „Aufklärung ist nicht Schuldzuweisung. Es geht darum, vorurteilsfrei und ergebnisoffen die Situation zu analysieren, um dann beim nächsten Mal besser gerüstet zu sein.“ Was eine Binsenweisheit ist, aber beim Thema Corona immer mal wieder gesagt werden muss. Kritisch anzumerken wäre, dass zweifellos auch die Frage nach der Schuld für bestimmte Entscheidungen geklärt werden muss, sonst wird das nichts mit der Rüstung fürs nächste Mal. Und so fordert Schmidt-Chanasit folgerichtig eine Entschuldigung für die Aussage über die „Pandemie der Ungeimpfen“. Er selbst spielte auf Ex-Minister Jens Spahn an, aber es gibt genügend andere, für die das gleiche gälte.

Womit wir beim Spiegel angekommen wären. Deren Redakteur machte sich in seinem (Pseudo-)Aufarbeitungstext Spahns Gefasel vom gegenseitigen Verzeihen zu eigen. „Es wird Zeit, dass wir einander verzeihen“, ist der Text von Claus Hecking überschrieben. Wer etwas bereut, wer einsieht, Fehler gemacht zu haben, dem verzeiht man. Manchmal gerne, manchmal zähneknirschend. Aber ohne Einsicht? Das wird schwer. Für Hecking gibt es nur eine folgenschwere Fehlentscheidung: Die Schulschließungen (da haben wir sie wieder). Ansonsten stellt er Absurdes nebeneinander: Polizisten, die Jugendliche durch einen Park jagen. Das sei für die Kinder schlimm gewesen. Wirklich schlimm sei doch die Todesnachricht für all diejenigen, die einen Angehörigen verloren haben.

„Mindestens 186.000 Menschen starben in den vergangenen fünf Jahren an oder mit dem Coronavirus, viele allein und qualvoll.“ Die Todeszahl als Totschlagargument. Keine Analyse, was dahintersteht, wie die Zahlen zustande kamen. Keine Frage, ob die Maßnahmen das vielleicht größere Problem waren. Wenn beispielsweise die Menschen qualvoll starben, weil sie allein waren. Aber darüber will der Spiegel-Redakteur nicht diskutieren, kritisiert weiter diejenigen, die die „Impfung“ verweigerten und dabei angeblich überproportional schwere Krankheitsverläufe riskierten.

Die „Impfung“ habe in Europa 1,4 Millionen Leben gerettet, es gebe nur sehr wenig Impfschäden, die das Paul-Ehrlich-Institut meldete (bis Frühjahr 2023, die neuesten Meldungen aus dem Dezember ignoriert er völlig). Wie tief der Graben zwischen den Recherchen vieler alternativer, oppositioneller Medien und diesem Spiegel-Text ist, zeigt sich in der kompletten Ignoranz des Autors. Auf dieser Basis gibt es keine Aufarbeitung, sondern nur Abarbeitung. Hier wird nicht der Bock zum Gärtner, sondern der große Balkenmäher säbelt alles nieder. Abarbeitung an den immer gleichen Gegnern, den Kritikern, den Oppositionellen. Eigene Aufarbeitung der Fehlleistungen des Spiegels, wo man mit dem Finger auf die Ungeimpften zeigen wollte, wäre dringend nötig, so Marcus Klöckner auf X und Milosz Matuschek auf Freischwebende Intelligenz. Die entscheidende Frage, was die Corona-Maßnahmen mit der Demokratie gemacht haben, stellt der Spiegel-Autor sich nicht. Dafür gibt es zum Glück Paul Schreyer. Darauf dann doch noch ein Glas Winterbock. Prost!

Auf dem Foto: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (links) applaudiert dem Virologen Christian Drosten, den er zum Tag der Deutschen Einheit 2020 im Schloss Bellevue mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet hat.

Helge Buttkereit ist Historiker, freier Journalist und derzeit in der Öffentlichkeitsarbeit tätig.

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Bildquellen: picture alliance/dpa/POOL AP | Michael Sohn