Seit es den Wahl-O-Mat gibt, gehört er zum gemeinsamen Spaß in Familie und Freundeskreis. Nie versiegende Quelle des Spotts ist dabei die Differenz zwischen der politischen Selbstverortung und den Ergebnissen des Wahl-O-Mat. Ich kann bezeugen, dass Familienmitglieder Fragen gegen die eigene Überzeugung so lange neu beantworteten, bis das Ergebnis zum Selbstbild passte. Aber irgendwie macht es von Jahr zu Jahr weniger Freude. So ging es mir auch, als wir die Liste jetzt vor der anstehenden Bundestagswahl durchspielten.
Dies liegt zum einen an der Willkür und mangelnden Relevanz der Themen. So lautet eine Frage: „Die gesetzliche Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen soll abgeschafft werden.“ Es gibt in Deutschland nicht mehr als 430 börsennotierte Aktiengesellschaften. Nur ein Teil davon ist so groß, dass ein paritätisch besetzter Aufsichtsrat eingesetzt werden muss. Es geht also um ein Potenzial von vielleicht tausend weiblichen Aufsichtsratsmitgliedern. Wie immer man dazu steht: Es ist ein Mikrothema, das eine Handvoll Leute einer bestimmten Schicht betrifft. Aber in bestimmten Kreisen ist es eben ein Aufreger.
Zum anderen sind viele Fragen auf einer so konkret-technischen Umsetzungsebene angesiedelt, dass man ihnen auch als politisch Interessierter hilflos gegenübersteht. Selbst wenn ich vielleicht eine Meinung hätte, ließe ich mich gerne in zwei Minuten vom Gegenteil überzeugen durch jemanden, der mehr Ahnung hat als ich.
Beispiel Migration: Heftig diskutiert wird die Frage, ob wir Migration begrenzen müssen (wenn nicht auf europäischer, dann eben auf nationaler Ebene) oder ob wir es gut und bereichernd finden, wenn wir möglichst viel und möglichst bunte Migration haben. Beides sind vertretbare Positionen. Ob aber die erste Position über Zurückweisungen an der Grenze oder aber einen Kilometer hinter der Grenze passieren sollte, ob über Schleierfahndung oder Sammellager oder mehr Kompetenzen für die Bundespolizei oder lieber für die Landespolizei – davon habe ich genauso wenig Ahnung wie 99 Prozent der Bevölkerung.
Dasselbe gilt für das nächste Thema: „An Bahnhöfen soll die Bundespolizei Software zur automatisierten Gesichtserkennung einsetzen dürfen.“ Hat man sich erst einmal auf diese Ebene begeben, dann macht uns die Phantasie unweigerlich zum Experten mit detaillierten Folgefragen: Soll dies nur für Hauptbahnhöfe gelten oder auch für U-Bahnhöfe und Busbahnhöfe? Und wenn der Bahnhof nicht mehr Bahnhof, sondern Verkehrszentrum heißt? Gehören zum Bahnhof auch der Bahnhofsvorplatz und die Shopping Area oder nur die Bahnsteige?
Der Wahl-O-Mat ist eine Sammlung isolierter Detailfragen ohne Kontext. Irgendwie komme ich mir vor wie bei Trivial Pursuit, wo man aus Feldern wie Sport, Film, Politik willkürliche Quiz-Fragen beantworten musste, von denen man, wenn überhaupt, nur zufällig irgendeine Ahnung hat. Bei der Hälfte der Fragen hätte ich auch locker das Gegenteil ankreuzen können. Geht es nicht eine Nummer größer?
So verschwindet der viel komplexere Zusammenhang. Beispiel Arbeitszeit: „In Deutschland soll die 35-Stunden-Woche als gesetzliche Regelarbeitszeit für alle Beschäftigten festgelegt werden.“ In Deutschland gibt es heute keine gesetzliche Regelarbeitszeit, sondern nur einen gesundheitlich begründeten Maximalrahmen. Dieser liegt bei zehn Stunden pro Tag und sechs Tagen pro Woche, also theoretisch bei 60 Stunden pro Woche. Alles andere ist Sache der branchenspezifischen Tarifverträge. Eine gesetzlich auf 35 Stunden begrenzte Arbeitszeit wäre also nicht nur eine Reduzierung der Arbeitszeit, sondern ein Systemwechsel der Zuständigkeit von den Tarifparteien auf den Staat. Dasselbe gilt für die Frage nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 15 Euro: Es geht nicht nur darum, ob dieser Mindestlohn 14, 15 oder 16,23 Euro beträgt, sondern auch darum, ob der Staat so etwas an den Tarifparteien vorbei zulasten Dritter festlegen kann.
Sind wir sicher, dass der Bundeszentrale für politische Bildung dieser Sachverhalt bei der Formulierung der Frage klar war?
Ich möchte das noch einmal am Beispiel der Frauenquote verdeutlichen: In den Aufsichtsrat größerer Unternehmen wird die Hälfte der Mitglieder von der Belegschaft gewählt. Frauen wie Männer können sich aufstellen lassen und Frauen wie Männer können wählen. Die Anteilseignerseite eines Aufsichtsrates ergibt sich aus den Beteiligungs-Anteilen. Nehmen wir den Idealfall, dass zehn Anteilseignern zu jeweils zehn Prozent in ein Unternehmen investiert haben. Dann säßen diese zehn Personen durch ihre Anteile im Aufsichtsrat. Dürften dann drei von ihnen nicht hinein, weil sie das falsche Geschlecht besitzen? Warum fragt der Wahl-O-Mat, ob ich für oder gegen die Frauenquote bin, so als ginge es um abstrakte Frauenrechte? Warum fragt der Wahl-O-Mat nicht, ob ich für oder gegen eine demokratische Aufsichtsratswahl und für oder gegen die Wahrnehmung von Eigentumsrechten bin?
Nennt man so etwas nicht Framing? Was hielten wir davon, wenn der Wahl-O-Mat zum Migrationsthema fragte, ob wir für oder gegen die Ermordung von Kindern durch Afghanen in Parks sind? Warum fragte er: „Der Bund soll Projekte gegen Rechtsextremismus verstärkt fördern.“ Warum nicht nach Linksextremisten oder Islamisten? Warum nicht nach Extremisten allgemein oder danach, was man unter diesen Begriffen versteht? So lässt mich die Liste der Fragen mehr und mehr mit einem Gefühl der Ratlosigkeit zurück. Willkürliche Themenauswahl, isolierte Detailfragen und ein leicht durchschaubares Strickmuster. Glaubt die Bundeszentrale für politische Bildung, dass das für uns schlichte Gemüter das angemessene Niveau ist? Oder drückt sich in den Fragen nicht vielmehr die Schlichtheit der Wahl-O-Mat-Verantwortlichen aus?
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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