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Welt-Tresen: Russland | 24.06.2025
Spinnennetz des Friedens
Besuch bei Familie Lerch: Russlands Herz offenbart die Vielfalt deutsch-russischer Beziehungen und unvergessliche Gastfreundschaft.
Text: Éva Péli
 
 

Mit der „Lastotschka“ (zu Deutsch: Schwalbe), einer Vorortbahn, fahren wir am 11. Mai rund 40 Kilometer aus Moskau hinaus nach Zelenograd-Krjukowo. Nur zwei Tage zuvor, am 9. Mai, hatten wir Viktor Lerch im Siegespark kennengelernt, er lud uns zu sich ein.

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Historisch gesehen ist Zelenograd besonders: Hier wurde der deutsche Vormarsch 1941 von der Roten Armee gestoppt – der Blitzkrieg scheiterte genau an diesem Punkt. Doch unser Besuch gilt dem Hier und Jetzt, wir wollen erfahren, wie der „ganz normale Russe“ lebt. Aber gibt es ihn überhaupt, den „ganz normalen Russen“?

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Am Bahnhof in Krjukowo holen uns Viktor, seine Nichte Swetlana und ihr Mann Danil mit dem Auto ab. Wir machen sofort ein Foto am Denkmal für die Sieger der Roten Armee. Viktor zeigt uns den frisch renovierten Bahnhof in Pistazienfarbe, der 1941 zerstört und von deutschen Kriegsgefangenen wiederaufgebaut wurde. „Es waren viele, und sie mussten was tun“, sagt der Wolgadeutsche, der selbst kein Deutsch spricht. Der Bahnhof ist jetzt nur noch Denkmal, eigentlich sollte er abgerissen werden, aber der Protest der Bevölkerung hat ihn gerettet. Sie wollten die Geschichte Zelenograds nicht auslöschen. Der neue Bahnhof nebenan „entspricht den Anforderungen“ des deutlich angestiegenen Zugverkehrs in die Umgebung Moskaus.

Nachfahre der Wolgadeutschen

Viktors Nachname Lerch deutet auf seine Wurzeln. Sie liegen bei den Wolgadeutschen, einer Minderheit, die in den 1930ern, noch vor dem Zweiten Weltkrieg, von der Wolga nach Kasachstan umgesiedelt wurde. Den genauen Zeitpunkt konnte Viktor nicht nennen, aber er betont: „Das war noch vor dem Krieg!“ Die Wolgadeutschen mussten in ihrer Geschichte ständig „beweglich“ bleiben.

Auch Viktor hat viel von der Welt gesehen. Seinen Militärdienst leistete er in Wladiwostok, im äußersten Osten der Sowjetunion, auf einem Schiff im Japanischen Meer und vor der Halbinsel Kamtschatka, erzählt er uns zu Hause in seiner Einzimmer-Küche-Bad-Wohnung bei einem Tee und Kuchen. Die Wohnung ist in der zehnten Etage eines vielstöckigen Neubaus in einem Mikroviertel mit vielen Spielplätzen, Fußballplatz. Einfach, aber gepflegt. Ein Blick auf seine Kühlschrankmagnetensammlung ist vielsagend: Neben der Krim, Sankt Petersburg und Moskau sind da Gagarin sowie Putin als Eishockey-Spieler zu sehen.

In den 1990ern zog es Viktor von Kasachstan nach Zelenograd, eine „Sputnik-Stadt“ vor den Toren Moskaus. Dort hat er sich niedergelassen und arbeitet als Hilfsarbeiter in einer Rüstungsfabrik. „Da wird Elektronik hergestellt“, sagt Viktor – in einem Trainingsanzug mit CCCP-Emblem und -Schriftzug. Draußen prasselt der Regen. Ich mache mir schon ein wenig Sorgen, dass unsere Konversation damit zu Ende geht. Deutsche Journalisten in der Nähe einer russischen Rüstungsfabrik – dünnes Eis.

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Viktors Familie und der „Tambower Wolf“

Viktors große Familie ist über verschiedene Länder verstreut. Drei seiner Brüder sind als Spätaussiedler nach Deutschland gegangen, einer lebt in Berlin, wo wir auch wohnen. Doch nicht für alle ist Deutschland zur Heimat geworden. Ein Bruder kehrte später nach Russland zurück. Hier leben weitere Familienmitglieder, die Viktor regelmäßig besucht. Seine Nichte Swetlana sagt, dass er die Fäden zusammenhält. Bei den Besuchen sei seine Tasche voll mit Geschenken.

Viktor erzählt später, dass sein Haus in Tambow für ihn ein wichtiger Anlaufpunkt ist – auf halbem Weg zwischen Moskau und Wolgograd, früher Stalingrad. Dort lebt auch einer seiner Brüder. Tambow ist bekannt durch die russische Redewendung „Der Tambower Wolf ist dir kein Towarisch (Genosse).“ Auf Deutsch: „Ich wünsche deine Gesellschaft nicht“. Diese Redewendung stammt aus der Zeit des Bürgerkriegs, als die Region Tambow erbitterten Widerstand gegen die Bolschewiki leistete. Die Bauern waren, um es zeitgemäß auszudrücken, „not amused“ über Entkulakisierung und Zwangskollektivierung. Als besonderes Erinnerungsstück schenkte Viktor meinem Freund ein Käppi mit dem Tambower Wolf – ein passendes Symbol für diese bewegte Geschichte und Viktors Verbundenheit mit seiner Heimat.

Blicke in den Alltag und zurück

Viktor beschwert sich nicht. Die Preise steigen, ja, aber die Gehälter auch. Die öffentlichen Plätzen sind viel sicherer geworden, sagt er. „Putin molodetz.“ Das versteht man auch, wenn man kein Russisch spricht. Putin ein guter Kerl. Viktor erinnert an die wilden 1990er, als er in die Hauptstadt kam – Zelenograd ist offiziell ein Teil von Moskau. Die Miete ist zu stemmen – halb Moskau kauft Wohnungen in der Umgebung und vermietet sie schwarz. Eine Win-win-Situation für Mieter und Vermieter in Moskaus Vororten.

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Als der Regen nicht aufhörte, sind wir dann nach Neu-Jerusalem gefahren, in ein russisch-orthodoxes Männerkloster, einen bekannten Ausflugsort in der Stadt Istra. In Zelenograd selbst konnten wir bei dem Wetter nicht viel tun. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Kloster aus dem 17. Jahrhundert Zeuge der Schlacht um Moskau. Eine SS-Division wütete dort und hinterließ Zerstörung. Ganze Teile der Anlage wurden gesprengt, andere stürzten einfach ein. Als 1945 endlich Frieden einkehrte, gab es nichts als Ruinen.

Der Wiederaufbau dauerte Jahrzehnte. Doch nach dem Ende der Sowjetunion kehrten die Mönche zurück, und das Kloster, auch Wiederauferstehungs-Kloster genannt, erwachte langsam wieder zum Leben. Erst 2017 stand das Bauwerk wieder in seiner vollen Pracht. Viktor bewegt sich vertraut im Kloster. Er zündet drei Kerzen an, geht zum Brunnen mit dem heiligen Wasser, füllt damit seine Plastikflasche und zeigt uns die eine oder andere Ikone.

Modernes Nomadenleben

Viktors Nichte Swetlana ist etwa 30. Sie lebt 40 Kilometer von ihrem Onkel entfernt und betreibt mit ihrem Freund Danil aus Jaroslawl ein einzigartiges Geschäftsmodell: Sie kaufen verfallene Immobilien, renovieren sie eigenhändig und verkaufen sie dann.

Swetlana ist eine tüchtige Geschäftsfrau und handwerklich äußerst begabt, wie ihre kunstvollen Dekorationen beweisen, die sie ebenfalls herstellt und verkauft. Sie reist gerne und sucht Immobilienobjekte in den unterschiedlichsten Ecken Russlands: mal in der Nähe von Sankt Petersburg, mal am Ural oder sogar auf der Krim. Für die Dauer der Renovierungsarbeiten zieht das Paar um.

Als ich ihren Sohn Kostja sehe, kann ich meine Verwirrung kaum verbergen und frage Swetlana: „Wie macht ihr das mit der Schule?“ Ihre Antwort verblüfft mich: „Oh, Kostja lernt online.“ „Die ganze Zeit?“ – hake ich nach. „Ja“, sagt sie, „das macht er gerne.“

Mir wird schnell klar: Kostja ist jetzt zehn. Das heißt, er wurde vor vier Jahren eingeschult – mitten in der Corona-Krise. Er kennt also gar nichts anderes als Online-Unterricht. Ob das wohl gut geht? Ich versuche, meinen Zweifel oder meine Bedenken nicht zu sehr zu offenbaren.

Krim: Wo Grenzen verschwimmen

Durch Viktors Familie bekommen wir einen Eindruck, wie fließend die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Russland sind und wie flexibel man mit geografischen und politischen Gegebenheiten umgeht. So etwas kann kein Buch und keine TV-Dokumentation vermitteln. Swetlana hat mit Danil eine Immobilie auf der Krim gekauft, die sie als Ferienhaus anbieten wollen. „Die Insel ist wunderschön“, schwärmt sie. Angst habe sie keine. Für sie scheint die Verbindung von Körper, Geist und Seele noch intakt – eine Verkörperung der russischen Seele: naturnah, spirituell, aber auch sehr pragmatisch und bodenständig.

Auf der Krim, sagt sie, sprechen alle ohne Angst miteinander, egal ob Russen, Ukrainer oder Tataren. Die Herkunft spiele dort keine Rolle. Die Menschen verstehen nicht, wozu der Krieg gut ist, wenn doch jeder gut miteinander auskommt. „Geld spielt die Musik“, so Swetlanas knappe, aber vielsagende Erklärung.

Russlands Silicon Valley und ein Ort der Geschichte

Zelenograd, die „grüne Stadt“, verdankt ihren Namen dem waldreichen Gebiet, in dem sie liegt. Ab 1958 als sozialistische Stadt auf bewaldetem Gebiet erbaut, erhielt sie 1963 die Stadtrechte. Vor 1991 war sie für Ausländer nicht zugänglich. Hier entstanden die bedeutendsten Produktionsstätten für Mikrochips, Laser sowie Mikro- und Nanoelektronik der Sowjetunion – heute das russische Silicon Valley.

Apropos Chips: An Waschmaschinen mangelt es in Zelenograd nicht. Auch an anderen Waren und Produkten ist kein Mangel, wie wir bei einer Shoppingtour am Sonntag – dann haben die Läden auch auf – feststellen. Im Elektrowaren-Handel sehen wir unzählige Handys, Laptops und Waschmaschinen hauptsächlich chinesischer Hersteller. Sogar einen Trainingsanzug mit CCCP-Emblem und -Schriftzug, wie ihn Viktor trägt! Nur CDs und DVDs sucht man vergeblich. „Seit Jahren hat niemand mehr danach gefragt“, sagt die Verkäuferin.

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2020 wurde Krjukowo mit dem Ehrentitel „Bezirk für militärische Tapferkeit“ ausgezeichnet – und das zu Recht. Zwischen dem 30. November und dem 8. Dezember 1941 tobten hier die schwersten Schlachten, die das Ende des deutschen „Blitzkriegs“ bedeuteten. Die Wehrmacht konnte Moskau nicht erreichen – nur noch 42 Kilometer bis zum Roten Platz. Eine Strecke, die unser neuer Bekannter jede Woche zu Fuß zurücklegt. „Einfach so“, sagt er. „Ich laufe gerne durch die Wälder, beobachte die Pflanzen und Tiere auf dem Weg.“ Er hat die Strecke sogar schon einmal an einem Stück hin und zurück geschafft.

Operation Spinnennetz: Eine persönliche Verbindung

Diese Reise, die ursprünglich nicht nach Zelenograd führen sollte, entwickelte sich zu einem Paradebeispiel russischer Gastfreundschaft. Und dieser Nachmittag vertiefte unsere deutsch-russischen (und ungarischen, wolgadeutschen) Beziehungen auf unerwartete Weise.

Seitdem erhalten wir täglich TikTok-Begrüßungen von Viktor, ein Lebenszeichen aus Zelenograd-Krjukowo. Es kommen auch Fotos von Ausflügen mit der Familie. Ja, die familiären Bündnisse werden gepflegt. Einige Tage nach unserer Rückkehr schockierte uns ein Video: Eine enorme ukrainische Drohne hatte in Zelenograd eingeschlagen, Ziel war die Mir-Karte-Fabrik (Mir ist eine Alternative zu Visa und Mastercard). Viktor und seine Familie sind wohlauf, wie uns Swetlana versicherte, die derzeit auf der Krim ist. Ein paar Tage später kam die Nachricht über die ukrainische „Operation Spinnennetz“. Doch davor haben wir, ganz spontan, unser persönliches „Spinnennetz“ des Friedens längst gewebt.

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Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com. Webseite der Autorin

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