Jede Organisation und jedes arbeitende Individuum produziert Fehler. Das war auch so in den Unternehmen, in denen ich gearbeitet habe. In der Regel bespricht man das, korrigiert es stillschweigend oder, wenn das nicht möglich ist, entschuldigt sich und sorgt notfalls für irgendeine Kompensation – dann ist das Ding aus der Welt. Das habe ich so mit meinen Mitarbeitern gemacht. Meine Chefs haben es mit mir gemacht und so läuft es auch zwischen mir und meinen Kunden.
Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt.
Als in der Stadtbibliothek Münster in zwei von 350.000 Büchern dieser Warnhinweis geklebt wurde, mag am Anfang irgendeine Laune eines Bibliothekars, irgendein individueller Übereifer, vielleicht gar eine persönliche Geschichte gestanden haben. Aber das muss uns nicht interessieren, denn die Angelegenheit endete nicht damit, dass man nach Intervention des Autors stillschweigend den Warnhinweis entfernte und sich beim Autor mit irgendeiner Erklärung – und sei sie noch so windig – entschuldigte. Nein, die Stadt Münster insistierte auf ihrem Vorgehen, lieferte Begründungen und hielt ihre Argumentation über zwei Instanzen aufrecht – bis sie vor dem Oberverwaltungsgericht NRW letztinstanzlich unterlag.
Innere Beweggründe kann man nicht kennen. Aber wenn jemand offiziell mit einer Begründung an die Öffentlichkeit oder vor Gericht geht, dann muss ich nicht Psychologe spielen, sondern darf mit vollem Recht die Person oder Institution damit identifizieren. Und ich bekomme noch eine andere implizite Information: Wenn jemand sein Verhalten mit bestimmten Gründen rechtfertigt, setzt dies voraus, dass diese Gründe in seinen Augen positiv besetzt sind und ihm Zustimmung einbringen – vor Gericht, in der Öffentlichkeit oder mindestens bei seinen Gesinnungsgenossen.
Die Stadt Münster hatte argumentiert (und das Verwaltungsgericht Münster war ihm gefolgt), dass Bibliotheken nicht nur passiv Bücher ins Regal stellen, sondern Bildungseinrichtungen seien,
die durch den Zugang zu Informationen wesentlich zur Vermittlung von allgemeiner, interkultureller und staatsbürgerlicher Bildung beitrügen. Sie sollten die demokratische Willensbildung und gleichberechtigte Teilhabe sowie die gesellschaftliche Integration ermöglichen und unterstützen.
Man muss nur ein bisschen im Bibliothekskatalog stöbern, um die Willkür der Auswahl zu erkennen: Nach allem, was man weiß, wurde die Frau nicht aus der Rippe des Mannes erschaffen, und ebenso ist umstritten, ob ein Stern die heiligen drei Könige zum Stall in Bethlehem führte. Dennoch warnt die Stadtbücherei freundlicherweise nicht vor der Bibel. Auch Galileis „Sternenbote“ oder Darwins „Entstehung der Arten“ waren bei ihrem Erscheinen hochumstritten und sind es in gewissen Kreisen bis heute. Vermutlich sind diese Werke auch nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand. Kein Problem, wir dürfen sie ungewarnt ausleihen. Ebenso wenig sieht sich die Bibliothek genötigt, vor Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ oder Hitlers „Mein Kampf“ zu warnen. Umgekehrt auch nicht vor Lenins „Staat und Revolution“. Auch die außerirdischen Besucher in den Werken Erich von Dänikens kommen ungeschoren davon. Selbst Plagiatsvorwürfe wie gegen Annalena Baerbocks Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ machen das Buch nicht umstritten.
Die Stadt Münster argumentiert, dass der Warnhinweis zurückhaltend formuliert sei. Ich würde eher sagen: Er ist heimtückisch. Vor allem jedoch ist er verräterisch. Irgendwie erinnert er an das Phänomen des Freud’schen Versprechers. Oder noch besser an Walter Ulbrichts Aussage „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ – wonach in der Pressekonferenz vom 15. Juni 1961 niemand gefragt hatte. Man bekennt, dass man eigentlich zensurmäßig eingriffe, wenn man dürfte. Da man das aber leider nicht darf, versucht man dasselbe mit einem Warnhinweis zu erreichen. Wenn ein Warnhinweis gar nichts mit Zensur zu tun hat, warum muss man dann diese Begründung nachschieben?
In jedem Fall enthält der Warnhinweis ein paternalistisches Aufgabenverständnis, nämlich dass wir Dummerchen eine Hilfe benötigen, die entscheidet, was für uns zumutbar ist. Das Oberverwaltungsgericht hat dies erkannt und darauf hingewiesen, dass es nicht Aufgabe der Bibliotheken ist, solche Bewertungen vorzunehmen.
Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass sich mündige Staatsbürger in öffentlichen Bibliotheken mit Informationen versorgen, um sich – ohne insoweit gelenkt zu werden – eine eigene Meinung zu bilden.
Kurz und schmerzlos – mehr Klatsche geht nicht.
Bis zur Hysterie sehen wir überall Vorurteile. Gleichzeitig gibt es immer noch Leute, die in größtem Sendungsbewusstsein ihre Bestimmung darin sehen, Vor-Urteile zu fällen, bevor wir uns ein eigenes Urteil bilden können. Und immer und immer wieder das Etikett „umstritten“ – auch ich kann mich hier nur wiederholen. Mir geht es gar nicht darum, ob und warum irgendetwas als „umstritten“ bezeichnet wird, sondern darum, dass „umstritten“ überhaupt negativ gewertet und mit einem Warnhinweis versehen wird. Stets wird die Existenz eines „Mainstreams“ als Narrativ der Rechten abgetan. Aber der Umgang mit dem Etikett „umstritten“ beinhaltet die Überzeugung, dass es einen Hauptstrom unumstrittener Meinungen gibt, in dem man sorglos mitschwimmen kann, während jenseits davon gefährliche Strudel lauern. Natürlich bringt uns nicht jede „umstrittene Meinung“ weiter, aber wenn wir Menschen nie den unumstrittenen Mainstream verlassen hätten, dann säßen wir immer noch auf Bäumen und äßen Bananen. Jedenfalls ist das unter Menschenaffen bis heute die unumstrittene Lebensweise. Warum sollte man sich überhaupt die Mühe machen, Bücher zu schreiben, für Bibliotheken anzuschaffen und zu lesen, wenn sie nur das enthalten, was sowieso schon jeder denkt?
Es fällt auch immer die Einseitigkeit und innere Widersprüchlichkeit des Begriffs auf. Wenn jemand dadurch umstritten wird, dass nicht alle ihm zustimmen, dann müsste man auch selbst umstritten sein, sobald ein einziger anderer Meinung ist. Umstritten sind nur die Andersdenkenden, man selbst dagegen ist mutig. Eigentlich möchte ich Respekt vor dem Andersdenkenden, dem politischen Gegner oder wissenschaftlichen Antipoden haben – nur so macht der Diskurs Spaß. Hier jedoch kommt mir statt Respekt eher das „Fremdschämen“ in den Sinn.
Ich könnte pessimistisch sagen, das Glas ist halbleer: Warum gibt es immer noch gesinnungsgetriebene Verwaltungsentscheidungen, von denen man vorhersagen kann, dass sie keinen Bestand haben werden? Warum gibt es Urteile unterer Instanzen, die die Kläger zwingen, in die teure Berufung zu gehen? Es ist offensichtlich kein unbeabsichtigter Fehler, sondern Absicht. Von erfahrenen Richtern, die auch in der Juristenausbildung tätig sind, höre ich, dass es nachwachsenden Juristen immer schwerer fällt, das Grundprinzip inhaltlicher Neutralität zu verstehen.
Aber sagen wir doch einfach mal optimistisch, dass das Glas halbvoll ist. Wenn man keine grundsätzliche Aversion gegen juristische Texte hat, dann ist die Lektüre der Urteilsbegründung ein Genuss. Das Gericht äußert sich zu keinen inhaltlichen Fragen, sondern bezieht sich allein auf gesetzliche Grundlagen – und auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Wir alle – ich schließe mich da ein – neigen in unseren spontanen Gefühlen zur Gesinnungsjustiz. Wir wünschen uns, dass gerichtliche Entscheidungen unsere inhaltlichen Sympathien bestätigen. Der zivilisatorische Wert eines Rechtsstaates besteht jedoch darin, dass er blind ist gegenüber Sympathien für irgendwelche Gesinnungen. Das ist manchmal schwer verdaulich und verstörend, aber Gesinnungsjustiz ist ein genauso schwerer Anschlag auf den demokratischen Rechtsstaat wie radikale Kräfte, die ihn überhaupt in Frage stellen. Auch wenn es nur um zwei Bücher von 350.000 geht – es ist gut, dass ein Gericht festgestellt hat: Ein Warnhinweis, der der mündigen Entscheidung des Lesers vorgreifen möchte, ist gesichert verfassungsfeindlich.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
Berichte, Interviews, Analysen
Freie Akademie für Medien & Journalismus