Seit gut einem Jahr fehlen im zentral gelegenen Prinzenpark der bulgarischen Hauptstadt die Figuren auf dem einst 37 Meter hohen Denkmal der Sowjetarmee: ein Rotarmist, der ein Maschinengewehr in die Höhe streckt, umringt von einer bulgarischen Familie, einem Mann und einer Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm. Es steht nur noch der eingerüstete Sockel des 1954 anlässlich des zehnten Jahrestages der Befreiung durch die sowjetische Armee errichteten Denkmals. Es gehört zu einer größeren Denkmalanlage in dem weitläufigen Park, die nicht mehr zugänglich ist. Aktuell führt eine Kunsteisbahn vor der Denkmalanlage auch um den gesperrten Bereich herum.
Der Prinzenpark liegt am Boulevard „Zar Befreier“ zwischen der Universität und dem Wassil-Lewski-Stadion. Nur einen Steinwurf entfernt ist das Reiterdenkmal des russischen Zaren Alexanders II., dem „Zar Befreier“, vor dem Parlament am gleichnamigen Boulevard. „Zar Befreier“ deswegen, weil die Truppen Alexanders II. Bulgarien 1878 von den Türken befreiten. In Sichtweite des Reiterdenkmals, das eines der wenigen Zarendenkmäler außerhalb Russlands ist, befindet sich die Alexander-Newski-Kathedrale mit ihren vergoldeten Kuppeln. Newski war Fürst und Heerführer und ist heute russischer Nationalheld und ein Heiliger der orthodoxen Kirche. 1242 stoppte er die Expansionsversuche des Deutschen Ordens nach Russland in der Schlacht auf dem Peipussee. Weder beim Denkmal des russischen Zaren Alexanders II. noch bei der Kathedrale, die nach dem Heerführer benannt ist, wurde bisher zum Abriss aufgerufen.
Anders beim Denkmal der sowjetischen Armee, die Bulgarien, einen Verbündeten Hitler-Deutschlands, 1944 vom Faschismus befreite. Bereits 1993 wurde sein Abriss beschlossen, aber 30 Jahre nicht umgesetzt. Seither wurde an der Denkmalanlage wenig gemacht. Nun war sie nicht mehr sicher, was der Grund des Rückbaus sein soll. Praktisch über Nacht begannen im Dezember 2023 die Abrissarbeiten, die bald darauf von einem Gericht gestoppt wurden, weswegen der Sockel immer noch steht und mit ihm die Denkmalanlage davor. Geplant war, das Denkmal zu restaurieren und andernorts auszustellen, beispielsweise im Museum für sozialistische Kunst in Sofia. Da dieses aber nicht über die nötigen Kapazitäten verfügt, ist sein Schicksal immer noch unklar. Der Abbau des Denkmals sollte 130.000 Euro kosten. Allein für den Wachschutz, den es bis heute gibt, bezahlt die Stadt 35.000 Euro im Jahr.
Seit der Verschärfung des Ukrainekriegs vor drei Jahren wurde das Denkmal mehrfach beschädigt und mit ukrainischen Landesfarben besprüht. Vor dem Denkmal finden immer wieder Demonstrationen statt, sowohl für die Erhaltung des Denkmals als auch gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine. Letztere waren begleitet von Gegenprotesten in Bulgarien lebender Ukrainer. Ein großes Polizeiaufgebot sorgte für genügend Abstand zwischen den verfeindeten Parteien. Aufgrund dieser Vorkommnisse wird der Ukrainekrieg von vielen als der wahre Grund für den Abriss des Denkmals angesehen. Zuvor lud die Parkanlage zum unbeschwerten Spaziergang ein, im Schatten des Denkmals wurde getanzt, Fahrrad und Skateboard gefahren.
Für den Erhalt des Denkmals setzte sich sowohl die bulgarische Partei „Die Linke“ ein als auch die patriotisch-konservative Partei „Wiedergeburt“, die in Deutschland gerne als nationalistisch, wenn nicht gar ultranationalistisch und russlandfreundlich bezeichnet wird. Über mehrere Monate gab es eine Mahnwache beider Parteien, zu der sich auch immer wieder ganz normale Bürger gesellten. Als ich im August 2023 vor Ort war, waren mehrere Zelte vor dem Denkmal aufgebaut und die Protestierenden saßen unter einem Sonnenschutz. Unter ihnen Vesselina Nikolowa (Name geändert), eine kräftigte Frau um die Sechzig, die viele Jahre im Ausland gelebt hat, unter anderem auch in Deutschland, und in der Corona-Zeit nach Bulgarien zurückgekehrt war.
Nikolowa sagte, dass sie keiner Partei angehört, sondern als Bulgarin und Einwohnerin Sofias hier sei, um zu verhindern, dass Geschichte getilgt beziehungsweise umgeschrieben wird. Für Nikolowa ist das Denkmal Symbol des Kampfes gegen den Faschismus, der nicht zu Ende ist. Sie wies darauf hin, dass in der Roten Armee sechs Millionen Ukrainer gekämpft haben. Warum die meisten der in Bulgarien lebenden Ukrainer ausgerechnet gegen dieses Denkmal sind und nicht gegen russische Denkmäler, versteht sie nicht. Was den Ukrainekrieg angeht, sieht sie in den Interessen der USA und der Nato die wahren Gründe.
Ein von der Partei „Die Linke“ aufgebautes Zelt wies mit einem Plakat auf das Ehrenmal der sowjetischen Armee an der Straße des 17. Juni in Berlin hin. Es waren auch Plakate von einem ähnlichen Denkmal in Wien zu sehen. Weder in Wien noch in Berlin ist man bisher ernsthaft auf die Idee gekommen, diese Denkmäler abzureißen. Sowohl die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) als auch die Partei „Wiedergeburt“ erklären die Demontage des Denkmals für illegal und fordern ein Referendum, um die Bürger entscheiden lassen. Die Partei „Wiedergeburt“ rief dazu auf, zum Denkmal zu kommen und „gegen den Faschismus und seine zeitgenössische Projektion, den Euro-Atlantismus“ zu protestieren. Im Gegensatz zur Partei „Die Linke“ sind die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) und die Partei „Wiedergeburt“ im Parlament vertreten.
Vor dem „Kampf ums Denkmal“, den Beschädigungen und Farbattacken in Folge des Ukrainekrieges gab es mehrere Besprayungen des Denkmals. Die bekannteste ist von einem anonymen Künstlerkollektiv im Jahre 2011. Sie gaben den Soldaten an einem Relief unter anderem das Aussehen der Filmhelden Superman und Joker, ein Clown schwenkte dazu die US-Flagge. Der Titel ihres Kunstwerkes war Im Schritt der Zeit, die Deutung überließ man den Betrachtern. Von den meisten wurde die Besprayung, die bald darauf entfernt wurde, als Kritik an der politischen Elite ihres Landes verstanden. Kritik daran, dass diese blind dem Westen folgt.
Diesen Eindruck hat auch Wanja Grigorowa. Gegenüber dem Nationalradio stellt die Wirtschaftsexpertin fest: „Damals war die UdSSR ein Verbündeter der USA und Großbritanniens“. Deswegen verstehe sie nicht, warum die lokalen Behörden die USA unterstützen, aber das Denkmal der Sowjetarmee ablehnen. „Solche Denkmäler gibt es in ganz Westeuropa, denn die Rolle der Roten Armee in der zivilisierten und demokratischen Entwicklung Europas ist unbestritten. Ohne die Rote Armee gäbe es keine Europäische Union.“ Grigorowa sagt, dass es wichtig sei zu wissen, dass ein großer Teil der dritten Ukrainischen Front, die in Bulgarien eindrang, aus etwa 180.000 ukrainischen Soldaten bestand, und fragt die Gegner des Denkmals: „Gegen wen führen sie diesen Krieg? Gegen die USA – einen Verbündeten der UdSSR im Zweiten Weltkrieg, gegen die Ukraine, die an der Roten Armee beteiligt war, oder verfolgen sie die geopolitischen Interessen eines bestimmten Landes?“
Der Denkmalabriss ist aber nicht nur ein geopolitisches Signal. Die mit ihm verbundene Verteufelung der sozialistischen Zeit in Bulgarien dient auch dazu, Kritik an den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen im Land klein zu halten. Diese ist angesichts von Inflation und Kriegsgefahr nicht nur ganz aktuell, sondern sie war es bereits unmittelbar nach der Wende, die in Bulgarien „Demokratisierung“ genannt wird – ganz bewusst in Anführungszeichen. Dies bestätigt der aus Bulgarien stammende Schriftsteller Ilija Trojanow in seinem 1999 erschienen Sachbuch „Hundezeiten – Heimkehr in ein fremdes Land“ (die Neuausgabe hat den Titel: „Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte“). Trojanow erinnert mit seinen Reportagen nicht nur „an alle Opfer des totalitären Regimes“, sondern auch „an alle Opfer der neuen, demokratischen Zeit, an die in ihrer Wohnung erfrorenen, aus Mangel an Medizin und ärztlicher Betreuung dahinsiechenden, in ihrer endlosen Verzweiflung sich selbst getöteten Menschen.“
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