1800 Menschen stehen auf und applaudieren, als Daniele Ganser am Samstag die Bühne in Moers betritt – dabei hätte dieser Abend fast nicht stattgefunden. Eine Klage durch zwei Instanzen war nötig, um den Historiker überhaupt sprechen zu lassen. Die Spannung im Saal ist mit Händen zu greifen. Gansers Vortrag trägt den Titel „Ist Weltfrieden möglich?“ und er beantwortet diese Frage gleich zu Beginn mit einem entschiedenen Ja. In einer Welt mit täglich neuen Schreckensmeldungen klingt das kühn. Doch Ganser entfaltet an diesem Abend kein naives Friedensmantra, sondern eine ebenso leidenschaftliche wie analytische Gegenwartsdiagnose mit klarer Haltung.
Ganser nähert sich dem Weltgeschehen als Friedensforscher mit geschärftem Blick für verdrängte Fakten und Narrative. Sein Erkenntnisrahmen ist geprägt von historischem Tiefgang: Er erinnert daran, dass die UNO-Charta seit 1945 alle Angriffskriege verbietet – ein Gewaltverbot, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vielfach gebrochen wurde. Ganser hält fest: Auch die westlichen Staaten haben die globale Ordnung unterminiert. Diese Kontextualisierung fehlt ihm zum Beispiel aktuell im Ukraine-Konflikt. Statt sauber zu informieren, schüren Medien, so sagt er das, ein einseitiges Feindbild. Gansers Erkenntnisinteresse gilt der Komplexität hinter Kriegen. Er plädiert dafür, Quellenvielfalt zu nutzen, um dem Reflex zu entgehen, jede Eskalation blind einer Seite zuzuschreiben.
Bemerkenswert ist seine Aufklärung über die Mechanismen der Angst: Ganser zeigt, wie Politik und Leitmedien Unordnung und Furcht erzeugen, um Zustimmung zu gewinnen. Angst als Herrschaftsinstrument – eine Einschätzung, die er mit kritischen Medienforschern teilt. Sein Appell: Nichts unhinterfragt glauben. Diese aufklärerische Haltung durchzieht den Vortrag als roter Faden. Ganser knüpft damit an die Tradition kritischer Denker an: den eigenen Verstand zu gebrauchen, anstatt Meinungen fertig serviert zu übernehmen.
Doch Ganser belässt es nicht bei der Analyse – er skizziert einen Handlungsrahmen, wie Frieden praktisch näher rücken kann. An erster Stelle steht für ihn die Rückbesinnung auf das Völkerrecht: Alle Nationen, ob Groß- oder Kleinmacht, müssten das UNO-Gewaltverbot wieder ernst nehmen. Keine Kriegsverbrechen dürften mehr toleriert werden – weder russische Invasionen noch westliche „Interventionen“. Dieses Prinzip sei der Hebel, um das seit 1945 gegebene Versprechen „Nie wieder Krieg“ endlich einzulösen.
Zweitens fordert Ganser, Spaltungen zu überwinden. Er greift die Polarisierungen unserer Zeit auf und stellt ihnen sein Konzept der Menschheitsfamilie entgegen. Für Ganser gehören alle Menschen zur selben Familie, ungeachtet von Herkunft oder Meinung.
Drittens dringt Ganser darauf, Friedensverhandlungen nie zu sabotieren. Er berichtet von geplatzten Chancen – etwa den Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022, als der Ukraine-Krieg vielleicht schon hätte beendet werden können. Seine Botschaft: Diplomatie braucht einen längeren Atem als die Kriegslogik.
Viertens nimmt Ganser die Medien in die Pflicht. „Medien für den Frieden statt Medien für den Krieg“ lautet seine Forderung. Er geißelt die vergangenen 25 Jahre Medienentwicklung als epochales Versagen – eine Dauererzeugung von Angst und Feindbildern, die eine friedliche Verständigung erschwert. Statt immer neuer Drohkulissen brauche es einen Journalismus, der deeskaliert und Perspektivenvielfalt zulässt.
Und schließlich ruft Ganser zur persönlichen Achtsamkeit auf. Frieden beginnt für ihn im Kleinen, bei jedem Einzelnen: in der Art, wie wir miteinander reden und wie wir mit unseren Gedanken umgehen. Indem er politisches Weltgeschehen und persönliche Lebensführung verknüpft, steckt er einen erstaunlich weiten Handlungsrahmen ab: von der UNO-Charta bis zur Mindfulness-Übung am Morgen. Die Quintessenz: Frieden ist eine Aufgabe auf allen Ebenen – international, gesellschaftlich und im Inneren jedes Menschen. Und Frieden fängt immer bei uns selbst an.
Trotz aller Krisendiagnose zeichnet Ganser einen hoffnungsvollen Horizont. Sein Vortrag ist keine deprimierende Klage, sondern streut Lichtblicke und Mutmacher ein. Gleich eingangs fragte er provokativ, wie der einst eiserne Friedenswille der Nachkriegszeit so schnell erodieren konnte. Ganser will diesen Geist wiederbeleben. Er erinnert daran, dass die Europäische Union ursprünglich als Friedensprojekt gedacht war, um Erzfeinde zu Partnern zu machen. „Die überwältigende Mehrheit der Menschheit tötet sich nicht“, ruft er dem Publikum in Erinnerung. Mit anderen Worten: Krieg ist die Ausnahme, nicht der Normalzustand. Während Nachrichten täglich Gewalt und Chaos präsentieren, lohnt der Blick auf das Alltägliche und gewinnt eine Distanz zur Panikmache, da Angst immer ein schlechter Ratgeber ist. Stattdessen setzt er auf Neugier, Dialogbereitschaft und den Glauben daran, dass sogar Großmächte ihre Politik ändern können, wenn genug Menschen es einfordern. So endet der Abend nicht in Resignation, sondern in Aufbruchstimmung: Weltfrieden ist möglich, wenn wir es wirklich wollen, und das ist die leise, aber hartnäckige Hoffnung, die Ganser seinen Zuhörern mitgibt.

Im Zentrum von Gansers Denken steht ein positives Menschenbild. „Der Mensch an und für sich ist ein sehr gutes Wesen“, erklärt er überzeugt, „er ist nur relativ leicht zu täuschen“. Diese Aussage ist keine Floskel, sondern Fundament seiner Argumentation. Ganser traut den Menschen – allen Nationen, jeder Kultur – grundsätzlich Friedensfähigkeit zu. Aggression und Grausamkeit erscheinen bei ihm nicht als unausweichliche Natur des Homo sapiens, sondern als Folge von Manipulation, Angst und Irrtum. Wenn die Ängste auffliegen und die Angst weicht, bleibt im Kern eine Sichtweise voller Empathie.
Diese Haltung erklärt, warum er nie verbal abwertend über „die Russen“, „die Amerikaner“ oder irgendein Kollektiv spricht. Statt Feindbildern betont er Gemeinsamkeiten. Alle gehörten zur Menschheitsfamilie, so seine stetige Mahnung. Konflikte zwischen Völkern seien kein Naturgesetz, sondern von Interessen geschürt – und genau deshalb prinzipiell lösbar. Interessant ist, dass Ganser sein positives Menschenbild auch mit Selbstkritik verbindet. Er warnt vor Überheblichkeit: Niemand sei immun gegen Propaganda, auch der klügste Kopf könne irregeleitet werden. Daher pocht er auf Bescheidenheit im Urteil und darauf, anderen zuzuhören, selbst wenn man nicht ihrer Meinung ist. Dieses Plädoyer für Dialog und Demut davor, dass in einem Diskurs auch der andere Recht haben könnte, deckt sich mit klassischen aufgeklärten Werten – und kontrastiert scharf mit dem gegenwärtigen Trend, Andersdenkende auszugrenzen. Gansers Menschenbild ist idealistisch, aber nicht weltfremd, er hält an der Lernfähigkeit des Menschen fest. Als Historiker schildert er, wie Menschen in Feindesrollen gedrängt wurden, aus denen sie später herausfanden. So wie einst Deutsche und Franzosen nach Jahrhunderten der Kriege Frieden schließen konnten, so könnten auch heutige Gegner wieder Partner werden. Dazu brauche es jedoch den Willen, das Gute im Anderen zu sehen. Und Vertrauen. Vertrauen in die menschliche Vernunft, gepaart mit der Wachsamkeit vor deren Missbrauch – so lässt sich Gansers Menschenbild vielleicht auf eine Formel bringen.
Gansers Thesen stehen quer zum medialen Mainstream, der ihn nicht selten als Verschwörungsguru belächelt oder als umstrittenen Träumer abtut. Doch der Schweizer reiht sich in eine wachsende Reihe unabhängiger Denker ein, die ähnliche Fragen stellen, wenn auch in unterschiedlichem Tonfall. Ulrike Guérot, profilierte Politologin, wagte es 2022 öffentlich auszusprechen, dass der Ukraine-Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann, sondern seit dem Maidan 2014 aufgeladen wurde – inklusive einer entscheidenden Rolle der USA. Sie erntete dafür Anfeindungen in Talkshows und erfuhr akademische Ächtung, was die Grenzen der deutschen Debattenkultur offenlegte. Gabriele Krone-Schmalz, langjährige ARD-Russlandkorrespondentin, weist ebenso wie Ganser unermüdlich darauf hin, dass Frieden und Sicherheit in Europa nur mit, niemals gegen Russland möglich sind. Ihre mahnenden Worte gegen eine „kriegstreiberische Politik“ und für mehr Verständnis der russischen Sicherheitsinteressen schlagen in dieselbe Kerbe wie Gansers Appell, Feindbilder durch Dialog zu überwinden. Auch auf theoretischer Ebene findet Ganser Verbündete: Der Psychologe Rainer Mausfeld hat in Angst und Macht detailliert dargelegt, dass die Erzeugung von Angst ein bewährtes Herrschaftsinstrument ist. Gansers Warnung vor der „Angstpumpe“ der Medien ist nahezu eine populärwissenschaftliche Umsetzung von Mausfelds Forschung.
Schließlich betont Albrecht Müller in seinem Buch Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst von 2019 den gleichen Dreiklang, den auch Ganser predigt. Müller warnt: Wenn die große Mehrheit der Menschen sich keine eigenen Gedanken mehr macht, wird die öffentliche Meinung und mit ihr die Politik steuerbar. Genau diesem Trend stemmt Ganser sich entgegen, indem er sein Publikum immer wieder zum eigenständigen Teilnehmen animiert. Sein Alleinstellungsmerkmal: Ganser verbindet analytische Systemkritik mit einem praktisch-optimistischen Ansatz. Er ist als Historiker nicht nur Chronist der Verfehlungen, sondern zugleich Motivator. Seine Mischung aus historischer Faktenfülle, medienkritischer Schärfe und kraftvoller Empowerment-Rhetorik gibt ihm eine einzigartige Stimme in der Friedensbewegung. Ganser erreicht ein Publikum jenseits akademischer Zirkel – und vermittelt ihm das Gefühl, Teil der Lösung zu sein. Und dieses Gefühl wird vom Publikum dankbar angenommen, immer wieder wird Gansers Vortrag vom Zwischenapplaus unterbrochen.
Daniele Ganser liefert mit „Ist Weltfrieden möglich?“ weit mehr als einen Vortrag – er hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Mit klarem Kompass und verständlicher Sprache rüttelt er an bequemen Wahrheiten. Seine Botschaft: Frieden fällt nicht vom Himmel, aber er ist machbar, wenn wir umdenken. Ganser schöpft Hoffnung aus der Geschichte und aus dem Menschen selbst. Kurze Sätze, klare Worte. So entsteht ein kämpferisches Plädoyer für Vernunft und Mitmenschlichkeit. Nach einem langen stürmischen Applaus geht dieser Abend mit Daniele Ganser zu Ende. Und unermüdlich stellt er sich nach der Veranstaltung noch lange dem Publikum – signiert Bücher, beantwortet Fragen und lächelt in Kameras.
Bastian A. Werner hat im März 2025 am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.
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