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Lebensgeschichten | 28.10.2025
Im Gärbottich der Ideen
Ein Gespräch mit dem Schauspieler, Musiker und Kabarettisten Ramon Bessel über den Zusammenhang von Fleiß und Kreativität.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Lebensweg

Ramon Bessel wurde 1974 in Tegernsee geboren. Nach dem Abitur studierte er Musikpädagogik und Musikwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München und schloss dieses Studium im Jahr 2001 ab. Parallel dazu begann er 1999 ein Schulmusik-Studium an der Hochschule für Musik und Theater in München mit den künstlerischen Fächern Gesang und Klavier.

Von 1997 bis 2015 war Ramon Bessel musikalischer Leiter und Schauspieler des Münchner Sommertheaters. Das Ensemble gastierte mit Produktionen klassischer Komödien im deutschsprachigen Raum. In den Jahren 2016 und 2017 war er als Sänger und Darsteller in den Musiktheater-Produktionen des freien Landestheaters Bayern unter Vertrag.

Im Sommer 2018 entstanden die ersten eigenen musikkabarettistischen Lieder. Es folgten 40 Auftritte bei Mixed-Shows in Bayern, Baden-Württemberg, Österreich und Berlin. Schnell folgten Auftritte im BR-Fernsehen und Finalteilnahmen beim Deutschen Songcontest „Troubadour“ in Stuttgart sowie beim Protestsongcontest des ORF in Wien.

Am 1. März 2020, zwei Tage vor dem ersten Corona-Lockdown, fand die Premiere des ersten abendfüllenden Musikkabaretts statt: „Lieder zum Festhalten“. Anschließend wurden nahezu alle Live-Termine abgesagt oder auf unbekannt verschoben. Ramon Bessel produzierte eine CD mit den Liedern des Programms und veröffentlichte diese während des zweiten Lockdowns im November 2021. Motiviert von Auftrittsanfragen (etwa aus dem Münchner Volkstheater zur musikalischen Umrahmung des bayerischen Jahresfinales „Best of Poetry Slam“ im Dezember 2024) nahm er die Arbeit an kabarettistischen Liedern und Texten wieder auf.

Parallel dazu arbeitete er mit dem Kollegen Sebastian Schlagenhaufer an einer Revue mit dem Titel „Operation Heil!Kräuter – Kabarett im Dritten Reich“, die seit Wiedereröffnung der Bühnen im Frühjahr 2022 in Süddeutschland und Österreich zu sehen ist. Auch im neuen Stück „Ludwig II – Der bayerische Patient“ steht er gemeinsam mit Sebastian Schlagenhofer auf der Bühne.

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„Wenn das Leben stillsteht, steht die Quelle der Kreativität still.“

Herr Bessel, wenn Sie etwas Vorhandenes abspielen, sagen Ihnen die Noten, dass Sie jetzt „tatata-taa“ spielen sollen. Oder da steht „Wenn ich zum Augenblicke sage …“. Dann können Sie sich natürlich überlegen, wie Sie das rüberbringen, wie Sie es betonen oder wie Sie auf der Bühne stehen. Aber es steht schon mal was auf dem Blatt. Wenn Sie dagegen ein Lied schreiben, komponieren oder einen Kabaretttext verfassen, dann steht da nichts. Woher kommen die Ideen?

Also, ich habe zum Beispiel immer ein Buch dabei. Da kommen Ideen oder Textzeilen rein, permanent. Das sind kleine Funken. Gestern Abend kam beim Abwaschen dieser Funke, ich möchte ein Lied schreiben über „Grenzen verschieben“. Ich finde es ein wahnsinniges Phänomen, dass man eine Zeile hat in einem Buch, dann schreibt man eine zweite Zeile dazu. Dann irgendwann überlege ich mir zum Beispiel, dass ich es im Stil eines russischen Volksliedes machen werde. Irgendwann habe ich das Gefühl, dass es reif und gut ist. Dann spiel ich es anderen Leuten vor, hole mir Feedback ein. Ganz wichtig im kreativen Prozess ist die Frage, wem zeige ich es und wann zeige ich es. Ich in meinem Kasper-Hauser-Turm sehe meine Welt, also mein Zimmer, nur von innen, während alle anderen den Turm von außen sehen. Manchmal ist das, was ich mir an die Wand gehängt habe in meinem Zimmer, einfach nicht verständlich oder nicht klar. Dann braucht man die Außensicht. Also ich probiere den Akkord aus, ich probiere die Stilistik aus. Und wenn es in mir reagiert, wenn ich spüre, das ist interessant, da passiert was, das baut Spannung auf, wenn es so weit ist, wenn es stabil genug ist, wenn genug Zeilen, genug Musik zusammengetragen sind, dann kann ich es jemandem zeigen, der sagt, ja stimmt, das erlebe ich auch so, das ist interessant oder eben nicht.

Sie haben ein Lied geschrieben, in dem es um die Rolle des Publikums geht. Welche Rolle spielen die anderen für die Kreativität?

Von der Vorstellung, dass der Künstler einsam im stillen Kämmerchen sitzt und auf die Inspiration wartet, halte ich persönlich nichts. Die Kunstwerke, die in der Pandemie entstanden sind, besonders Bühnenstücke, die waren nicht gut. Die meisten Leute haben Coverplatten aufgenommen, haben Gedichte vertont, die es schon gab. Das heißt, wenn das Leben stillsteht, steht die Quelle der Kreativität still. Eine bekannte Kabarettistin hat in der Pandemie ein Programm geschrieben mit viel Disziplin und Aufwand. Ich habe es mir angeguckt und es klingt genau nach Pandemie. Es klingt nach einer Kopfgeburt in einer Zeit, in der nichts passiert ist. Unser Kopf ist ein Gärbottich und wird gefüllt vor allem mit den Ereignissen des Lebens. Und die bestehen bei vielen Künstlern aus Begegnungen mit anderen Menschen. Keines meiner Programme, keines meine Lieder hätte ohne die Begegnungen mit anderen Menschen entstehen können. Wenn man diese Begegnungen nicht hat, dann ist der Zufluss in diesen Gärbottich einfach abgeschnitten. Und dann ist alles hohl, was da rauskommt.

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Wie wichtig ist das Üben?

Kreativität ist nichts, was einfach vom Himmel fällt, sondern Kreativität ist etwas, was man permanent trainieren, betreiben, üben und mit viel Disziplin machen muss, damit dann der sogenannte göttliche Funke, der scheinbar aus dem Nichts kommt, auch wirklich ankommt. Am Anfang habe ich sehr viel Unterricht genommen und dann ging das fließend über in Unterricht geben. Also das Knowhow weitergeben, produzieren und selbst spielen: Das gehört schon immer als Einheit zusammen. Und das nährt sich auch gegenseitig. Mozart, Beethoven und Michael Jackson hatten eine grauenhafte Kindheit, weil sie nur geübt und gespielt haben. Und Mozart schreibt später noch, ihm falle Musik so leicht, weil er als Kind so hart gearbeitet habe. Das wäre heute bei uns alles verpönt und verboten und unmöglich.

Wie viel üben Sie jeden Tag?

In der Zeit, in der ich mein Programm und die meisten Lieder geschrieben habe, habe ich drei Stunden am Tag gespielt. Aber ich habe permanent in dieser Musik gelebt. Ich bin nachts aufgestanden und hatte dann plötzlich den Schlussakkord oder die Schlussphrase für dieses oder jenes Lied. Das heißt, es arbeitet permanent weiter. Ich muss dazu nicht zwingend am Klavier sitzen und das als Üben deklarieren.

Wie viele Künstler sprechen Sie über Fleiß, Üben, Dranbleiben. Über den Moment, wo diese Töne dann kommen, sagen Sie nichts, oder? Sind die dann einfach da?

Doch, doch, doch. Also, das ist ein lustvoller, beglückender Moment. Der ist wunderbar. Ich empfinde Inspiration wirklich als etwas, was von außen kommt, was aber vorbereitet sein muss. Und es gibt die unterschiedlichsten Vorbereitungsformen. Es gibt Lieder, die liegen jahrelang halbfertig rum, und man schleppt sich millimeterweise ans Ziel. Und es gibt andere Lieder, die in zehn Minuten an ihren Platz fallen, weil ich schon vier Jahre darüber nachgedacht hab. Mir wurde noch nicht klar, dass das jetzt ein Lied wird. Und trotzdem ist es so, dass der Nährboden immer da sein muss. Es muss nicht immer zwangsläufig im stillen Kämmerlein sein. Es kann auch ein Moment der Offenheit sein.

Welche Rolle spielt das Geldverdienen?

Wenn jemand sein erstes Lied, sein erstes Kabarettprogramm, sein erstes Theaterstück, seinen ersten Roman oder sein Fachbuch über irgendwas schreibt, dann ist das kaum als Erwerb motiviert. Das heißt, der Erwerb ist immer etwas, was am Ende dieser Kette steht und auch das nur vielleicht. Und wenn du die Stunden, die du da reinsteckst, zählen und am Ende abrechnen müsstest, dann kämst du auf einen Wert, der deprimierend ist. Aber umgekehrt hat das Geldverdienen auch eine schöne Seite: Ich baue ein neues Lied in ein Programm ein und dann spiele ich dieses Programm auf einer Bühne. Dann gebe ich bei der GEMA eine Liste ab, dass ich das Lied gespielt habe. Und einmal im Jahr kommt dann von der GEMA eine Ausschüttung. Wenn du es im Fernsehen gespielt hast, was ich auch schon tun durfte mit einzelnen Liedern, dann ist das gleich ein gehöriger Batzen. Und dann denkst du dir: Mensch, am Anfang war das eine leere Seite Papier und am Ende ist ganz materiell was angekommen.

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Welche Rolle spielen Vorgaben? Wenn Sie ein Programm haben, dann müssen Sie neunzig Minuten füllen. Oder wenn Sie ein Stück machen fürs Sommertheater, dann ist das drei Minuten lang – nicht sieben Minuten und nicht dreißig Sekunden. Und es muss etwas mit Molière zu tun haben und am 17. April fertig sein.

Vorgaben sind ein Segen. Reduktion und formale Vorgaben können ein Durchlauferhitzer sein, können dafür sorgen, dass die Maschine zielgerichtet, schnell und sehr konzentriert arbeitet.

Wenn Vorgaben keine Störungen sind: Was ist eine echte Störung für Sie? Was ist richtig schlecht?

Das Schlimmste ist Angst. Angst kann den kreativen Prozess blockieren und viele Formen haben. Ich nenne mal ein paar Ängste, die einen blockieren. Zum Beispiel die Angst, dass es nicht gut genug ist. Das heißt, ich bewerte es, bevor es überhaupt entsteht. Das sind die Leute, die einen Roman schreiben wollen und über den ersten Satz nicht hinauskommen. Schlecht sind zu frühe Bewertungen, zu frühes Feedback, falsche Leute, die man um eine Bewertung gebeten hat. Perfektionismus ist ein echter Killer. Alles, was die Leichtigkeit rausnimmt, alles, was das Spiel rausnimmt. Dazu gehört auch Stress, also Alltagsstress. Dazu gehören finanzielle Sorgen: Ich muss jetzt schnell irgendwie Geld haben. Also alles, was belastet, was die Leichtigkeit zerstört und einen so am Boden hält. Natürlich kann es auch Krankheit sein, es können Partnerschaftsprobleme sein. Langfristige Probleme, die einen nicht loslassen, die auch morgen nicht gelöst sind, bringen den kreativen Fluss zum Schweigen und zum Stoppen.

Aber Sie kriegen keine Schaffenskrise, wenn draußen eine Straßenbahn vorbeifährt?

Nein, bei Störungen und Blockaden geht es immer um langfristige Sachen. Und umgekehrt gibt es ganz viele Sachen, die die Kreativität beflügeln. Das sind für mich vor allen Dingen Begegnungen mit Menschen, Humor, Leichtigkeit im Austausch mit anderen. Und der Druck hilft. In dem Moment, wo du dir vornimmst, heute Abend ein neues Lied auf der Bühne zu haben, überrumpelst du alle Bedenken, Ängste und Hemmnisse, weil das Ziel so klar in den Vordergrund rückt. Und wenn du dir dann noch sagst, na ja, bei einem Lied, das in zehn Stunden geschrieben wurde, muss nicht alles perfekt sein, dann überrumpelst du auch den Perfektionismus und kommst in den Humor, weil du sagst, ja, das darf ruhig ein Schmarrn sein. Das werde ich ja nie wieder brauchen. Das werde ich nie wieder spielen. Ich nehme mich selbst nicht ernst. Ich kann über mich lachen. Und am Ende des Abends sind drei, vier Lieder dabei, wo du sagst, na, die kann man durchaus behalten. Da gehen wir noch mal ein bisschen drüber und dann kann man die dauerhaft spielen.

Nach all dem, was Sie gesagt haben, könnte man meinen, schöpferisches Arbeiten sei nur etwas für wenige Auserwählte, die obendrein rund um die Uhr üben.

Nun, wenn man mit Musik oder Theater nachhaltig Geld verdienen will, dann muss es einen bestimmten Stand haben. Und zwar nicht einmal, sondern immer wieder. Auch als Klempner verdient man ohne Fertigkeiten kein Geld. Aber so, wie nicht jeder das Klempnern beherrschen muss, muss auch nicht jeder ein Profimusiker sein. Aber auf irgendeine Weise sollte jeder Mensch kreativ arbeiten, weil es zur mentalen Gesundheit beiträgt. Das muss nicht immer ein großes, weltbedeutendes Kunstwerk sein, aber es hilft einem, sich selbst zu finden, zu spüren, sich zu erden, zu zentrieren und etwas zu schaffen. Wir alle haben einen schöpferischen Anteil in uns. Und zu sagen, ich verzichte in meinem ganzen Leben, in meiner ganzen Arbeit auf jegliche schöpferische Arbeit, ist eine Verstümmelung unseres Geistes und unseres Lebens.

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Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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Bildquellen: K. Bichlmayer (Titelfoto)