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Bericht | 17.05.2025
Grenzen der Justiz
Ein Termin vor Gericht bedeutet mehr als nur Recht sprechen. Eindrücke von der Verhandlung im Guérot-Verfahren, die ohne Urteil endet.
Text: Apostolos Katsikaris
 
 

Es ist ein Frühlingsvormittag voller Sonnenschein in Köln. Mit der Stadtbahn geht es zum Reichenspergerplatz. Kaum die Treppen ins Freie hochgelaufen und nach rechts geschwenkt, steht ein Prachtgebäude vor mir: Das Oberlandesgericht findet sich darin, ein Bau, der nach den Plänen Paul Thoemers 1911 verwirklicht wurde. Meine Begeisterung und mein Elan werden gebremst, denn mein Ziel ist das genau dahinter gelegene Landesarbeitsgericht. Architektonisch belanglos, frage ich während der Kontrolle nach Saal XX, der im ersten Stockwerk liegt.

Ich bin dreißig Minuten eher da, aber dort stehen schon einige Menschen in Wartegemeinschaft. Mir wird mulmig. Könnte es passieren, dass ich nicht rein kann? „In dem Verfahren... um die Kündigung einer Bonner Universitätsprofessorin findet... eine mündliche Verhandlung statt", steht auf der Webseite des Gerichts. Diese Meldung hatte meine Neugier geweckt. Eine Professorin, die klagt.

Der Justizbeamte lässt kurz vor Beginn die ersten Zuschauer herein. Ich bin auch dabei, allerdings müssen andere stehend draußen warten, weil die Sitzplätze belegt sind. Deshalb bleiben die Türen offen, damit alle teilhaben können. Öffentlich bleibt öffentlich. Genugtuung breitet sich in mir aus. Nach dem Austausch von Begrüßungen und Höflichkeiten der Verfahrensgegner beginnt die Verhandlung; der Vorsitzende als Berufsrichter und die beiden Schöffen (jeweils einer von der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite) kommen zuletzt. Der Vorsitzende ordnet zunächst das Verfahren, in dem er das juristische Problem erläutert und danach den Rechtsanwälten das Wort übergibt.

Mittlerweile ist eine Frau eingetreten, die sich in die erste Reihe der Zuschauer setzt. Ihre Strammheit und Strenge, durch ihren Blick, ihren Gang und ihren Körperbau verstärkt, erregen meinen Widerwillen. Zweimal steht sie während der Verhandlung auf, geht zur Tür, rügt die stehenden Zuschauer. Weshalb und wer sie ist, weiß ich nicht.

Wer einer Gerichtsverhandlung rechtssicher folgen kann, der folge. Aufmerksamkeit erhöht das Verständnis, Vorkenntnisse sowieso. Für Laien ist es immer wieder erstaunlich, wenn auch plausibel, wie sich Juristen über Rechtsauslegungen, Begriffe, Argumentationen und Einlassungen auslassen können. Wichtig, keine Frage, aber es fehlt etwas.

Einer der beiden Anwälte der Professorin ist im Vergleich zu seinen Kollegen (ja, Kollegen, alles Männer), der Inbegriff der Lebendigkeit. Aber nur, weil die anderen einen Ruhepuls von fünfzehn haben, was für diesen Beruf sicherlich von Vorteil ist. Ein Gegenstand von Belang ist ein vor Jahren erschienenes Buch der Klägerin, das ihr Anwalt bei seinen Ausführungen immer wieder hochhebt und darin herumblättert. Die Gegenseite bringt Satzbündel ihrer Gegenposition vor.

Nun bin ich fast ganz außen vor. Ich kann nicht mehr folgen, fühle mich in die Zeit als Schüler versetzt, als die Aufgaben einer Arbeit so absurd waren, dass ich aus dem Fenster schauen musste, eine Form der Verweigerung. Fast jeder kennt diese Situation. Wer sie nicht kennt, sollte sich fragen, warum. Da war eine Welt, die zwischen Traum und Realität lag. Ein Ort der Einkehr, in dem das „Jetzt" nicht so schlimm und das „Später" Grund zur Zuversicht war. Auch heute schaue ich aus dem Fenster. Ich nehme das Angenehme wahr: das Licht, das Grün, das Vogelgezwitscher.

Ist es zu glauben? Es kommt zu einem Wortgefecht. Irgendjemand hat den Ausdruck „infam" gebraucht. Der Professorin werden Betrug, arglistige Täuschung, Plagiate vorgeworfen. Das lässt sie sich nicht bieten. Sie antwortet mit Wucht. Nach einigem Hin und Her hat sich die Lage wieder beruhigt. Die mündliche Verhandlung geht ihren Gang. Der Vorsitzende glättet mit Geschick die Unebenheiten beider Seiten. Ein Schöffe macht sich Notizen.

Die Professorin hat bisher wenig gesprochen. Als sie ins Gespräch bringt, dass sie sich eine Rückkehr an die Universität Bonn aufgrund ihrer Leistungen vorstellen könne, brandet Applaus auf. Die resolute Frau, die bereits zur Ordnung gemahnt hatte, ruft in das Publikum: „Das geht so nicht!" Der Vorsitzende ist da lockerer und nimmt mit einer Handbewegung, einer Äußerung und einem Lächeln Dampf vom Kessel.

Nun bezieht sie Stellung, was die Kündigung mit ihrem Leben gemacht hat: Diffamierungen in der Öffentlichkeit, das Hineinziehen ihrer Kinder, Krankschreibung, die Zerstörung ihrer Reputation. „Ich werde in der Bundesrepublik Deutschland keine universitäre Anstellung mehr finden können", sagt sie sinngemäß. Das Wichtigste kommt zum Schluss, ist mein Gedanke.

Jetzt wird auch klar, wo die Grenzen der Rechtsprechung liegen. Rückgängig, ungeschehen machen ist nicht möglich. Unbenommen einer Niederlage vor Gericht hat ihr Leben Beschädigungen erhalten, die weit über den Zuständigkeiten eines Arbeitsgerichtes liegen. Dass sie damit nicht alleinsteht, ist bekannt. Dass Gerichte auch nicht die Seele richten können, ebenso. So gesehen erscheint die Doppeldeutigkeit des Wortes „Klage" in anderem Licht.

Die Verhandlung wird beendet. Die Parteien sollen sich austauschen, wie eine Lösung aussehen könnte. Es geht hier um akzeptable Formulierungen rund um die Kündigung, eine gütliche Vereinbarung, wohl um das Gesicht wahren zu können. Wessen Gesicht eigentlich? Also ist es doch eine Frage der Reputation oder vielmehr der Interpretation der Vereinbarung?

Ich unterhalte mich noch mit meinem Sitznachbarn. Meine Einschätzung, die zur Ordnung rufende Frau müsse eine Funktion haben, teilt er. Angespannt fasse ich mir ein Herz und frage sie, ob sie hier arbeite? Selbstverständlich ist sie die Pressesprecherin des Gerichts. Ich bin beruhigt. Draußen sitzt die Professorin auf der Eingangstreppe und hört einem Mann zu, der ihr offensichtlich ein Geschenk macht, das er erklärt. Es sieht wie ein Kunstwerk aus. Drumherum stehen Menschen, die vorher noch im Saal waren.

Befreit von der Beklemmung der Verhandlung, gehe ich um die Ecke zum Justizgebäude mit Stil. Ich sehe in der Höhe Justitia, die Unnahbare, als Giebelrelief, die Denkmalplakette mit Informationen an der Mauer neben dem Eingang. Wenn ich schon hier bin, warum nicht das Gebäude von innen sehen? Die Treppenanlage mit Kuppel lockt. Doch die Treppen hinunter zur Stadtbahn, weg von hier, sind mir lieber.

Apostolos Katsikaris hat im März 2025 am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.

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Bildquellen: Ulrike Guerot im Februar 2025 in München. Foto: picture alliance | Schreyer