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Bericht | 02.12.2024
Ein bewegender Abend
Zwei Autorinnen stellen im Sprechsaal in Berlin ihre Bücher vor. Es geht um Kinder und Ärzte in der Corona-Zeit.
Text: Brit Gdanietz
 
 

Die Besucher unterhalten sich in kleinen Gruppen, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters. Einige haben sich schon mit Getränken versorgt, andere rauchen noch vor dem Eingang. Ein kalter Novemberabend. Die Stimmung ist entspannt, erwartungsvoll. „Hoffnung und Heilung – Kinder in schwierigen Zeiten“, so der Titel der Lesung im Sprechsaal in Berlin-Mitte. Präsentiert wird er von der IAFF, der internationalen Agentur für Freiheit, einem Kunst- und Kulturverein, der 2022 in Berlin von verschiedenen Künstlern ins Leben gerufen wurde. Alle verbindet das Engagement zu den Themen Kunst und Freiheit. Die Agentur hat einen Verkaufstisch aufgebaut mit verschiedenen Publikationen, Werbeflyern für kommende Veranstaltungen und dem Kunst-Kalender für 2025. Auch ein Anstecker mit einer leuchtenden Friedenstaube kann hier erworben werden.

„Erzählen, was man erlebt hat – egal auf welcher Seite“

Die Schauspielerin Sabine Winterfeldt führt durch den Abend. Der Pianist Stephan Noel Lang begleitet sie. Sabine Winterfeldt erzählt von ihren Erfahrungen aus den vergangenen Jahren. Sie packt Wut, Verzweiflung, Widerstand und Hoffnung in Gesang und Texte und erhofft sich Austausch: „Ich wünsche mir, dass wir uns gegenseitig erzählen, was wir erlebt haben, egal auf welcher Seite wir standen.“

Zwei Autorinnen stellen ihre Bücher vor. Eine ist Dr. Gerburg Weiß, Zahnärztin und promoviert ebenso auf dem Gebiet der Hygiene. Ihr erstes Buch Wenn Ärzte gehen handelt von dem gescheiterten Versuch, 2021 mit einem Genesenenstatus ihre Praxis weiterführen zu können: Trotz nachgewiesener Immunität gegen Corona kann sie keinen positiven PCR-Test vorlegen – ihre Praxistätigkeit steht auf der Kippe. Sie fragt beim Gesundheitsamt nach: „Worum geht es hier in diesem Land? Um eine 100prozentige Impfquote oder um Gesundheit?“ Über ihr persönliches Schicksal hinaus beschreibt sie am Beispiel von Kollegen den Medizinerschwund in Deutschland. Die Mutter zweier Kinder beendet ihre Praxistätigkeit im März 2022.

Nun also ihr zweites Buch. Nach bestem Wissen und Gewissen – Ärzte in den Fängen der Coronadiktatur. Gleich zu Beginn der Präsentation bereitet sie das Publikum auf eventuelle technische Schwierigkeiten bei der Ton- und Bildtechnik vor und tatsächlich, es holpert. Das Publikum nimmt es gelassen. Die Wichtigkeit des Themas hat Vorrang. Gerne lässt es sich zum Assistieren für den einen oder anderen Knopfdruck einspannen. Das Gefühl mitzuhelfen, etwas beitragen zu können, hat Vorrang.

Bildbeschreibung

Gerburg Weiß sagt: „Das Buch hat mich gerufen.“ In ihm hat sie Gespräche mit Ärzten dokumentiert, die allesamt in der Corona-Zeit das erste Mal mit der Justiz konfrontiert waren. In den Interviews geht die Autorin den Fragen nach, wie es zur Strafverfolgung von bis dahin unbescholtenen Medizinern kam, warum Ärztekammern gegen sie vorgingen: „Haben wir es mit Schwerkriminellen zu tun? Oder gerieten Ärzte in einen Widerspruch zwischen dem, was politisch gewollt und vorgegeben wurde, und dem, was ihren ethischen Grundsätzen entsprach beziehungsweise immer noch entspricht?“

Wie kam es dazu, dass Ärzte zu Corona-Leugnern erklärt wurden, obwohl sie weder die Krankheit noch das Virus je angezweifelt haben? Handelte es sich um Ausnahmen? Um Einzelfälle? „Man will meinen Verstand anzweifeln – das wird nicht gelingen.“

53 Ärzte kommen in dem Buch zu Wort. Mit vielen hat Dr. Weiß persönliche Interviews geführt, mit einigen stand sie im Mail- und Telefonaustausch. Neun Kollegen kamen durch Internetrecherche dazu. Entstanden ist ein Zeitzeugnis, eine Dokumentation über die Geschehnisse im Gesundheitswesen der Jahre 2020 bis 2024.

Die Buchpräsentation bereichern Dankesbriefe kleiner Patienten der Zahnärztin. Zeichnungen, Fotos und Videos, die immer wieder die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft, die Kinder, in den Mittelpunkt stellen.

Bildbeschreibung

Eine umfassende Rezension des Buches hat Andrea Drescher auf TKP verfasst.

In der Pause haben die Besucher Gelegenheit, sich die Bilder an den Wänden des Sprechsaales anzusehen. Werke des Künstlers Bert Hochmiller, die beim Publikum gut ankommen. Die Ausstellung bietet einen passenden Rahmen zur Aufarbeitung der letzten Jahre – sind die Verantwortlichen dieser Zeit doch zu großen Teilen Gegenstand seiner satirischen Kunstwerke. (https://pandemimimi.de/)

„Ich verstehe mich als Anwältin der Kinder“

Die zweite Autorin Heidi Müller ist Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendtherapeutin. Sie hat die Kinderschutzambulanz im Heliosklinikum Buch mit aufgebaut. Das Erscheinen ihres Buches ist für das erste Quartal 2025 geplant.

Bereits in ihrer Rede bei einer „Friedlich Zusammen“-Demonstration im Berliner Mauerpark im März 2022 machte sie darauf aufmerksam, wie es Kindern und Jugendlichen in der Corona-Zeit ging:

Ich halte hier heute meine Rede für euch, weil ich weiß, wie es den Kindern und Jugendlichen in der Pandemie geht. Und ich nehme es schon vorweg: Es geht vielen nicht gut! Das fängt mit dem leidigen Thema Maske tragen in der Schule an. Einen Satz höre und hörte ich sehr häufig: Kinder gewöhnen sich doch an das Maske tragen. Dazu kann ich nur sagen: Ja, das stimmt! Kinder gewöhnen sich an alles. Weil es ihre Überlebensstrategie ist, ein lebensnotwendiger Anpassungsprozess!

Damals beschrieb Heidi Müller weiter, dass Kinder sich an Gleichgültigkeit, lieblosen Umgang, Ungerechtigkeiten, verbale Abwertungen und selbst an seelische, körperliche und sexuelle Gewalt gewöhnen. Weil sie keine andere Wahl haben!

Im Sprechsaal erzählt sie, dass in der Zeit der Lockdowns keine Notrufe in den Notambulanzen mehr eingingen. Nicht, weil es keine gab. Sondern weil Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen geschlossen waren und die Erzieher und Lehrer keine Meldungen machen konnten, da niemandem etwas auffiel.

Ihr Buch Ich bin Marcella ist „ein Kinderbuch für Erwachsene geworden“. Es gibt Missbrauchsopfern eine Stimme. Illustriert wurde es von der Künstlerin Ally und wechselt zwischen zwei Ebenen: Die der fünfjährigen Protagonistin Marcella und die ihrer Fantasiewelt, in welche sie flüchtet, um sich zu schützen. Um zu fliehen. In eine bessere Welt.

Sabine Winterfeldt liest ein Gedicht der Hauptfigur, „Marcellas Abgrund“, und singt Bettina Wegners Lied „Sind so kleine Hände“.

Die Emotionen sind schwer auszuhalten, Betroffenheit macht sich breit. Einige Taschentücher werden im Laufe des Abends gezückt. Auch in meinem Hals wird der Kloß immer dicker. Obendrauf folgt am konkreten Fall die Schilderung der Autorin, wie Richter und Jugendamt Entscheidungen treffen, die die Täter statt die Opfer schützen. Wenn man zusätzlich weiß, dass die Kinder- und Jugendambulanzen überfüllt und die Betroffenen oft mehrere Monate auf einen Therapieplatz warten, hinterlässt einen das mehr als ratlos.

Im Anschluss an die Präsentation gibt es ein Gespräch mit dem Publikum. Man spürt Wut über die Vernachlässigung der Grundrechte. In jeder Hinsicht, aber vor allem in Bezug auf die Kinder. Wut auch darüber, dass die Verantwortlichen noch immer an den Schalthebeln sitzen. Die Aufarbeitung, die sie vorgeben vorantreiben zu wollen, findet hier statt. Der Abend hat im positiven Sinn etwas von einer Therapiestunde und wird so dem Titel in doppelter Hinsicht gerecht. Verdrängtes, Unterdrücktes wird an die Oberfläche befördert und sucht sich seinen Raum, um zu heilen.

Es ist der 6. November 2024. Nicht nur der Abend geht zu Ende. Ein Besucher blickt auf sein Handy und ruft in den Saal „Die Ampel ist Geschichte!“ – und erntet Applaus.

Brit Gdanietz ist Schauspielerin und Sprecherin und hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.

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Bildquellen: Titel: Ally, Zeichnung: Ania Hardukiewicz