Ich war schon zweimal da. Und jetzt fahre ich wieder hin.
Dresden – Corona-Untersuchungsausschuss. Ein Wissenschaftler spricht, nein: DER Wissenschaftler. Man könnte sagen, ich sei ein Fan. Meine Frau sagt das auch – nur mit einem Unterton, der eher nach Diagnose klingt.
„Du bist ja verrückt“, sagt sie. „Da stundenlang sitzen und diesem Mann zuhören…“. Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Aber Schatz, das ist Christian Drosten. Der Mann hat mehr Veröffentlichungen als ich Socken besitze. Ein Leuchtturm der Wissenschaft!“ Sie nickt und lächelt. „Ich find’ ihn sehr hübsch. So ein bisschen wie ein italienischer Gigolo.“
Ich tue so, als hätte ich das nicht gehört.
„Mir geht’s ums Fachliche“, flüstere ich, „Argumentationslogik, Erkenntnisprozess.“ „Klar“, flüstert sie zurück. „Und mir um die Frisur.“

Wir sitzen also wieder im Landtag. Seine Stimme wiegt sich wie ein sanfter Wellengang aus Silben. Der ganze Saal ist still, als würde man gemeinsam in Watte gewickelt. Ich nicke eifrig – obwohl ich längst nicht mehr weiß, bei welchem Thema wir sind.
Diese Fremdwörter. Diese herrlich komplizierten Begriffe, die klingen, als müsste man sie mit Samthandschuhen anfassen: prä- und asymptomatische Transmissionen. Systembasierte Fallkontrollstrategie. Adhärenz der Politik. Secondary attack rate, aerosoldynamische Deposition, laborspezifischer Cut-off, Amplifikationsfragmente in Analyseketten, stochastischer Drift im phylogenetischen Stammbaum …
Wow. Ich schreibe alles mit. Ich verstehe nicht immer jedes Wort – aber ich informiere mich sehr genau. Man ist ja ein mündiger Bürger.
Ich blicke zu ihm. Was für ein Mann – hochintelligent, unerschütterlich, sprachlich ein Virtuose. So muss sich ein Schüler von Sokrates gefühlt haben. Nur dass Sokrates keine PowerPoint hatte. Seine Stimme wird zu einem Summen. Zu einer fernen, monotonen Melodie. Und langsam, unmerklich, bin ich nicht mehr im Saal.
Ein Marktplatz. Flirrende Luft, ein Hahn kräht. Menschen drängen sich um einen Planwagen. Und dort steht er – Professor Quacksalber – im weiten Mantel, das Haar wie frisch poliert, die Stimme klar und wohlig. „Bürger von überall!“ ruft er. „Eine neue Seuche zieht durchs Land. Ihr seid wohl alle erkrankt – ihr wisst es nur noch nicht!“
Ein Raunen. Eine Frau hebt die Hand. „Aber Herr Professor, ich fühle mich gesund.“ Er lächelt milde. „Gerade das ist das Heimtückische der Krankheit, meine Liebe.“
Von der Seite tritt ein breit grinsender Händler auf – den Korb voller Teststreifen. „Der Meister hat’s gesagt! Man muss es messen! Einfach draufpullern – heute im Dutzend günstiger!“
Die Leute greifen zu. Der Bürgermeister kauft eine Kiste fürs Rathaus. Kaum ist der Korb halb leer, rollt ein zweiter Händler heran – ein holzverschalter Karren voller Fläschchen. „Wer positiv ist – keine Sorge. Hier die Medizin. Mild, wirksam, wissenschaftlich belegt. Drei Flaschen – und die Krankheit ist halb so schlimm. Seien Sie solidarisch, retten Sie Leben.“
Der Markt tobt, die Glocke schlägt, Geldbörsen leeren sich. Über allem schwebt die Stimme des Professors, warm wie Samt: „Bleiben Sie achtsam. Vertrauen Sie der Wissenschaft. Ich bin die Wissenschaft.“
Ein Schmied ruft: „Aber Herr Professor, ihre Medizin hilft nicht – ich hab immer noch Husten.“ Die Bäuerin hinter ihm: „Ich bekomme Ausschlag. Sind Sie sicher, dass das nebenwirkungsfrei ist?“ Der Händler: „Dann brauchen Sie eine weitere Dosis. Die Krankheit ist zäh. Man muss dranbleiben.“
Einige schütteln skeptisch die Köpfe. Andere greifen bereits zur nächsten Flasche. Ich selbst stehe mittendrin, hypnotisiert. Ich will etwas fragen – aber der Gedanke löst sich auf wie Zuckerwatte im Regen.
Bild: Der Autor – von einer KI etwas älter gemacht.
„Du hast geschlafen“, flüstert meine Frau. Ich zucke zusammen. „Nein, nein.“ Vorn spricht Professor Drosten weiter. Behutsam, bedächtig. Ich notiere:
konsentierte wissenschaftliche Erkenntnisbasis.
Man weiß nie, wann man so etwas braucht. Ich fühle mich wieder wichtig. Ich habe all seine Podcasts gehört, ließ mich impfen, boostern, die Kinder und Enkel gleich mit. Manchmal muss man zügig handeln. Meinen Nachbarn habe ich gemeldet – ein Querdenker. Es gibt eben auch dumme Menschen. Verantwortung, sage ich immer. Verantwortung!
Vielleicht verstehe ich nicht jedes Detail – aber das ist auch nicht meine Aufgabe. Ich habe ja ihn. Und wenn er spricht, diese langen warmen Sätze, dann weiß ich: Alles ist gut. Wir sind in besten Händen.
Marcel Barz ist Informatiker. In der Öffentlichkeit hat er sich seit 2020 einen Namen gemacht durch Analysen von öffentlich zugänglichen Daten (Sterbefälle, Intensivbettenbelegung, Infizierte). Barz betreibt einen YouTube-Kanal.
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