Mitte August berichtete der Deutschlandfunk über das Thema „Assistierter Suizid“ und sagte, dass immer mehr Menschen das Angebot von Sterbehilfevereinen in Anspruch nehmen. Im Fokus des Beitrags stehen die Angehörigen, die von Sterbehilfeorganisationen meist allein gelassen werden – obwohl die Zahl der Suizidassistenzen stetig zunimmt, seit das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020, also gleich zu Beginn der Corona-Zeit, das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für nichtig erklärt hat. Das höchste deutsche Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die bisherige Regelung gegen das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben verstoße, und betonte ausdrücklich, dass durch das Urteil keine Verpflichtung zur Suizidhilfe geschaffen würde.
Der Leser des Deutschlandfunkbeitrags erfährt, dass erst wenige Studien existieren, die die psychologischen Folgen des assistierten Suizids bei Angehörigen untersuchen. Eine bereits vor Jahren in der Schweiz durchgeführte Untersuchung hatte ergeben, dass 13 Prozent der Angehörigen, die einem Suizid beigewohnt haben, die Kriterien einer klinisch relevanten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zeigen. Darüber hinaus wiesen 6,5 Prozent subklinische PTBS-Symptome auf, zum Beispiel Unruhe, Nervosität oder wiederkehrende Erinnerungen an das Ereignis. Fast fünf Prozent litten an einer anhaltenden Trauerstörung, 16 Prozent an Depressionen und sechs Prozent an Angstsymptomen. Das Vorkommen von PTBS und Depression lag höher als in der Schweizer Bevölkerung.
Meine Frau kommt aus Kalifornien, kennengelernt haben wir uns vor jetzt 15 Jahren wortwörtlich auf den Straßen Berlins. Uns verbanden das Taxifahren und die Liebe zu gutem Essen. Meine Frau war Taxifahrerin in New York, ich ein halbes Leben lang Taxifahrer in Berlin, ich habe darüber geschrieben. Meine Schwiegermutter wohnt in Kalifornien. Ich sollte aber besser sagen: wohnte. Seit dem Sommer 2023 lebt sie nicht mehr. Mit gerade einmal 77 Jahren entschied sie sich, aus dem Leben zu scheiden. Sicherlich, sie war nicht ganz gesund. Aber wer ist in diesem Alter ohne Vorerkrankung? Sie hatte körperliche Symptome, keine Frage. Beispielsweise sammelte sich Wasser in ihrem Bauchraum, der deshalb punktiert werden musste. Ursache war ein Nierenversagen, das man aber erst ganz zum Schluss fand. Sie hatte da schon eine mehrmonatige Odyssee von Krankenhaus zu Krankenhaus und von Arzt zu Arzt hinter sich. Nach Angaben ihrer Krankenkasse kostete das mehr als eine Dreiviertelmillion Dollar. Warum man die wahre Ursache ihres Leidens erst ganz am Ende erkannte? Schwer zu sagen. Es könnte mit der Corona-Impfung zu tun haben, meine Schwiegermutter hatte sich mehrfach impfen lassen. Eine unerwünschte Nebenwirkung ist das Versagen der Nieren. Ein möglicher Zusammenhang mit der Impfung wurde aber nie besprochen.
Dabei berichtete das National Center for Biotechnology Information, eine offizielle Seite der US-Regierung, bereits im November 2021 von einem ganz ähnlichen Fall: Eine 70-jährige gesunde Frau wurde wegen Hämaturie, Proteinurie und akutem Nierenversagen stationär aufgenommen. Sie hatte keine Vorerkrankungen und war zuvor weder an Covid-19 erkrankt noch anderweitig beeinträchtigt. Die Patientin berichtete, dass sie eine Woche nach der ersten Dosis des mRNA-1273-Impfstoffs (Moderna) Schwindel, Kopfschmerzen und Hämaturie verspürte. Zwei Wochen später folgten ein progressiver Blutdruckanstieg, eine ausgeprägte Hämaturie und eine verminderte Urinmenge. In einem Kreiskrankenhaus wurde akutes Nierenversagen diagnostiziert, woraufhin sie in ein Universitätsklinikum verlegt wurde.
Bild: Marian Velaro 2023 vor ihrem Café in der Mill Street von Grass Valley, Heimatstadt von Rumen Milkows Frau.
Ja, meine Schwiegermutter war in kurzer Zeit stark gealtert. Dazu muss man wissen, dass sie in aller Regel zehn bis 15 Jahre jünger geschätzt wurde. Bei einem Nierenversagen muss man sich nicht das Leben nehmen, sondern kann durchaus noch viele Jahre haben. Abhilfe schafft regelmäßige Blutwäsche, die Dialyse. Ich schreibe das auch als examinierter Krankenpfleger. Die Entgiftung des Körpers durch die Filtration von Blut ist eine der Hauptaufgaben der Nieren. Auch eine Spenderorgan ist eine Option, beispielsweise eine Niere ihrer Tochter, meiner Frau.
Diese Option wurde nie ernsthaft erwogen, ebenso nicht die Möglichkeit einer Dialyse. Meine Schwiegermutter wollte sterben, und des Menschen Wille ist bekanntlich sein Himmelreich. Sie wollte aber nicht nur sterben, sondern ich sollte dabei sein. Und natürlich ihre Tochter, meine Frau, die den assistierten Suizid vorbereiten sollte. Kalifornien hatte das genau wie Oregon, Washington, Montana und Vermont legalisiert, schreibt das Deutsche Ärzteblatt im Oktober 2015. In der Praxis bedeutet das, dass der Patient auf seinen Wunsch hin ein Mittel zur Selbsttötung erhält. Vorher müssen zwei Ärzte bestätigen, dass der Kranke höchstens noch sechs Monate zu leben hat.
Zum Vergleich: In Deutschland gab es zum gleichen Zeitpunkt, also vor der Gesetzesänderung im Jahre 2020, selbst unter den Sachverständigen des Bundestages noch konträre Ansichten zu dem Thema. Das Deutsche Ärzteblatt beispielsweise schrieb im September 2015:
Der assistierte Suizid ist (…) keine Sterbebegleitung, sondern das Beenden des Lebens in Fällen, in denen der Tod noch nicht von allein kommt.
In diesem Zusammenhang wurde vorgeschlagen, in einem neuen Paragrafen des Strafgesetzbuchs eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren für Beihilfe und Anstiftung zur Selbsttötung einzuführen.
Zurück nach Kalifornien: Ich erinnere mich nicht, dass meiner Schwiegermutter zwei Ärzte bestätigt hätten, dass sie maximal noch sechs Monate leben würde. Ich weiß aber noch, dass die erste Bestätigung ihrer Hausärztin für nicht ausreichend befunden wurde, so dass sie eine neue schreiben und detailliert begründen musste, warum sie einen assistierten Suizid befürwortet. Lag es vielleicht daran, dass die Hausärztin nicht von einem nahen Tod der Schwiegermutter überzeugt war? Ich weiß es nicht.
Nachdem das zweite Schreiben der Hausärztin angenommen war, kamen Mitarbeiter eines mobilen Hospizes ins Haus, um aufzuklären und die Ingredienzien des tödlichen Cocktails vorbeizubringen. Zubereitet wurde der Cocktail, der meine Schwiegermutter friedlich einschlafen lassen sollte, unmittelbar vorher von meiner Frau, die dafür Gummihandschuhe und Mundschutz trug. Das Ganze in dem kleinen Bad, das sich direkt neben dem Schlafzimmer ihrer Mutter befand.
Nach einigem Hin und Her hatte meine Schwiegermutter den Zeitpunkt ihres Todes auf den Morgen des 1. Juli 2023 festgelegt. Nur wenige Tage zuvor war sie noch in einem halben Tanz durch ihre Küche gewirbelt. Als wenn dies nicht schon merkwürdig genug war, wurde ihr Bruder, der die Nacht vor dem Todestag in ihrem Haus verbrachte, nicht geweckt. Nur vier Personen sollten anwesend sein – meine Frau, eine nahe Verwandte, eine gute Freundin und ich.
Mein Körper signalisierte mir seit meiner Ankunft in Kalifornien, am Tag des Todes war ich bereits einen Monat vor Ort, mit starken Rückenschmerzen, dass etwas nicht in Ordnung war. Und er sollte Recht behalten. Was nun folgte, glich einem Horrortrip. Meine Schwiegermutter trank den Cocktail über einen Metallstrohhalm zwar aus, kaum getrunken musste sie sich aber übergeben. Sie erbrach knapp die Hälfte des Cocktails. Ihre letzten Worte waren
Ich glaube, ich muss kotzen.
Nun war sie aber noch nicht tot. Sie atmete und ihr Herz schlug, ihre Augen waren weit geöffnet. Meine Gedanken, für die ich mich bis heute schäme, waren in dem Moment: Wie bekomme ich das Erbrochene wieder in die Frau hinein? Ein Pfleger des Hospizes musste kommen und uns beruhigen. Er könne zwar nicht garantieren, dass meine Schwiegermutter – ihre Augen waren mittlerweile geschlossen – auch wirklich sterben würde. Die Erfahrung sage aber, dass auch die Hälfte des Cocktails tödlich sei.
Er schlug vor, den Raum zu verlassen. Es gebe Menschen, die könnten nur sterben, wenn sie allein sind. Ich legte mich im Nebenzimmer hin, dem ehemaligen Kinderzimmer meiner Frau. Alle anderen gingen ins Wohnzimmer, um Karten zu spielen. Dazu muss man wissen, dass Gesellschaftsspiele eine große Leidenschaft meiner Schwiegermutter waren. Trotzdem fühlte es sich surreal an, zwischen der sterbenden Schwiegermutter im Nebenzimmer und den kartenspielenden Freunden und Verwandten im Wohnzimmer zu liegen. Zur Ruhe kam ich nicht.
Es dauerte knapp zwei Stunden, bis meine Schwiegermutter aus dem Leben geschieden war. Kurz darauf stand ihr Bruder auf. Ihm wurde mitgeteilt, dass seine Schwester gerade gestorben sei. Dass es ein assistierter Suizid war, wurde ihm nicht gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob er es heute weiß.
Bild: Antiquariat Booktown Books in Grass Valley.
Gut: andere Länder, andere Sitten. Auch in Bulgarien, dem Herkunftsland meines Vaters, gibt es Traditionen, die bis heute schwer zu verstehen sind für mich. Die umgedrehten Kopfbewegungen beim JA- und NEIN-Sagen sind da noch harmlos. Ich erinnere mich, wie bei der Beerdigung eines Freundes alle von einer mitgebrachten Speise mit ein und demselben Löffel essen mussten – und das zu Corona-Zeiten!
Auch wenn meine Frau aus den USA kommt, ist das Land nicht meine Heimat und Englisch nicht meine Muttersprache. Ich war dabei, habe, wenn man so will, mitgemacht beim assistierten Suizid meiner Schwiegermutter, auch weil es ihr Wunsch war. Über den hätte man diskutieren können und – das weiß ich heute – auch müssen. Und vielleicht auch, inwieweit sie es sich zu einfach machte, auch um möglichst jeglichem Leid aus dem Weg zu gehen. Denn Leid gehört nun einmal zum Leben.
Auch wenn ich nicht direkt gefragt worden war, ob ich dabei sein möchte, hätte ich als erwachsene Person Nein sagen können. In dem Moment erschien mir das Geplante aber als ortsüblich, um es so zu formulieren, und damit als normal und stimmig. Ich entsprach dem Wunsch meiner Schwiegermutter auch aus Loyalität ihr gegenüber, vor allem tat ich es aus Loyalität gegenüber meiner Frau. Ich wollte in der schwersten Stunde ihres Lebens an ihrer Seite sein. So, wie ich es ihr bei unserer Eheschließung versprochen hatte – in guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und in Krankheit, solange ich lebe.
Mit über zwei Jahren Abstand sehe ich das Geschehene mit anderen Augen. Heute würde ich vieles anders machen. Wie kam es zu diesem Umdenken? Das Bild der erbrechenden Schwiegermutter und ihre letzten Worte lassen mich bis heute nicht los. Ein friedliches aus dem Leben scheiden, was sowohl sie als auch wir uns gewünscht hatten, sieht anders aus. Ich hoffe, dass meine Schwiegermutter trotzdem ihren Frieden gefunden hat. Auch wenn ich das weder für meine Frau noch für mich sagen kann. Bis heute beschäftigt mich die Frage: Warum habe ich mir das angetan?
Um mir diese Frage zu beantworten, habe ich mit vielen Menschen gesprochen, darunter Ärzte, Psychologen und Menschen, die in jüngster Vergangenheit, also nach der Gesetzesänderung im Jahr 2020, hierzulande nahe Angehörige verloren haben. Letztere berichteten mir unisono, dass ihnen von behandelnden Ärzten höhere Dosen von Schmerzmitteln, beispielsweise Morphium, mittels Suggestivfragen nahegelegt wurden. „Sie wollen doch nicht, dass sie leidet?“ Das Ende war immer dasselbe – der rasche Tod des Angehörigen, der den Hinterbliebenen noch lange zu schaffen machte.
Schlimmer erging es Frauke Helling, die in Wirklichkeit anders heißt, in dem eingangs erwähnten Deutschlandfunk-Beitrag. Hellings Mutter hatte sich für einen assistierten Suizid entschieden und dies ihrer Tochter mit dem Argument „verkauft“ (O-Ton der Tochter), sie würde es auch für sie machen. Unter Tränen berichtet Frauke Helling, die sich von den Sterbehelfern alleingelassen fühlt, von ihrer Erfahrung:
Es ist schon ziemlich der Hammer, seiner Mutter gegenüberzusitzen, wenn die sich das Leben nimmt.
Das Sterben verlief auch hier nicht ohne Komplikationen, genauso wie bei meiner Schwiegermutter. Auch meine Frau und ich fühlen uns im Nachhinein alleingelassen. Jetzt weiß ich, dass wir bei unserer Entscheidung für einen assistierten Suizid am wenigsten an uns selbst gedacht hatten. Das Erlebte hat bei mir vermutlich eine Posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst, zumindest beobachte ich vermehrt Symptome wie Unruhe und Nervosität. Meine Frau leidet an einer nicht enden wollenden Trauer. Aktuell überlegen wir, in Zukunft getrennte Wege zu gehen.
Der besten Freundin meiner Schwiegermutter in Kalifornien soll es ebenfalls nicht gut gehen. Lediglich die nahe Verwandte beklagt sich nicht, sie sieht im Gegenteil im Geschehenen an erster Stelle das Komische. Auch wenn ich irgendwann gelernt habe, dass jede Sache nicht ihre zwei, sondern drei Seiten hat, eine gute, eine schlechte und eine komische, ist mein Fazit zum Thema „assistierter Suizid“: in Zukunft ohne mich.
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