B4a9a1ee81759ddeaf3c4bea56888acb
Artikel | 09.11.2024
Alles kommt wieder
DDR, Bulgarien und Bundesrepublik, Migration und Uber, Staatsbürgerkunde und Impfdruck: eine sehr persönliche Bilanz zum 9. November.
Text: Rumen Milkow
 
 

Es ist gut 40 Jahre her, dass ich im Staatsbürgerkundeunterricht die Frage beantworten sollte, warum die DDR die wahre Heimat aller Deutschen sei. Anhand der Fragestellung war klar, dass eine positive Antwort erwartet wurde. Ich erlaubte mir einen anderen Standpunkt. Heute sagt man Haltung. Ich erinnere mich, dass eines meiner Argumente die hohe Zahl der Einwohner pro Quadratkilometer war, die gegen die These des Staatsbürgerkundelehrers sprach.

Immerhin, ich hatte mir Gedanken gemacht, deswegen bekam ich „nur“ eine Vier und keine Fünf, die schlechteste Zensur in der DDR. Alle anderen, die für die These argumentierten, bekamen Einsen und Zweien.

Obwohl es heute keinen Staatsbürgerkundeunterricht mehr gibt, muss ich immer wieder an diese Geschichte zurückdenken. Denn die Fragestellung jetzt ist, warum die Heimat aller Mühseligen und Beladenen weltweit die Bundesrepublik Deutschland ist, um es mal so zu formulieren. Die Erwartung ist dieselbe wie damals. Wer dagegen argumentiert, hat sich zwar oft auch Gedanken gemacht, honoriert wird dies heute aber nicht mehr.

Und noch etwas ist anders. Früher kamen Klassenkameraden nach dem Unterricht, um einem unter vier Augen mitzuteilen, dass sie es genauso sehen, sich aber nicht trauten, es offen auszusprechen. Das passiert heute nur noch ganz selten. Und trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass es wieder viele geben wird, die, wenn der Wind sich dreht, behaupten werden, sie hätten es schon immer gewusst, dass es so nicht geht.

Die genannte aktuelle Fragestellung nahm 2015 ihren Ausgangspunkt, ganz anders als bei meinem bulgarischen Vater. Er kam Anfang der 1960er in die DDR, um zu bleiben. Er durfte das, weil er zuvor meine Mutter, sie ist Deutsche, geheiratet hatte. Und er war willkommen, weil er Arzt war. Da die Grenze bis zum August 1961 offen war, gab es auch damals schon einen Fachkräftemangel. Drei Millionen Ostdeutsche sind vor dem Mauerbau nach Westen gegangen, und nur 500.000 kamen ihnen entgegen. Medizin studiert hat mein Vater an der medizinischen Fakultät in Sofia. Ursprünglich kam er aus der ärmsten Region, aus dem Nordwesten Bulgariens.

Mein Vater hat in der DDR zwar einen bescheidenen Wohlstand gefunden, nicht aber sein Glück. Bis zum Schluss blieb er Bulgare, er wollte auch nie Deutscher werden. Und das, obwohl er viel Hochachtung vor den Deutschen und vor allem Deutschen hatte. Seine Heimat hat ihm immer gefehlt. Er begann zu trinken und starb mit gerade einmal 60 Jahren. Beigesetzt worden ist er auf dem Friedhof seines bulgarischen Heimatdorfes, der einem Dschungel gleicht. Das Dorf ist heute zum großen Teil verlassen, viele Häuser verfallen. Wer sich um die Kranken dort kümmert, während Ärzte wie mein Vater Kranke im Ausland heilen, über diese Frage habe ich nie jemanden nachdenken hören.

Auch deswegen, aber vor allem aufgrund meiner eigenen Familiengeschichte, stehe ich der Masseneinwanderung zwiespältig gegenüber. Zu meiner Geschichte gehört auch meine erste Ehe mit einer Bulgarin. Immerhin, wir lebten zehn Jahre in Berlin. Heute lebt sie wieder in Bulgarien und ich in Berlin und Bulgarien. Ende der 1990er war ich förmlich gezwungen zu heiraten, damit sie in Deutschland bleiben kann. Ich tat es, auch weil ich in einem Buch gelesen hatte, dass das Bleiberecht einer der wenigen wirklichen Gründe für eine Heirat sei. Das Buch heißt „Heiraten ist unmoralisch“ und ist von Esther Vilar.

Natürlich war auch Liebe im Spiel. Am Ende hat auch dies nicht gereicht. Meine Ex-Frau ist, obwohl sie sehr gut Deutsch sprach, nie wirklich in Deutschland angekommen. Wenn sie zum Beispiel keine Arbeit fand, waren immer die Deutschen Schuld. Und warum überhaupt arbeiten, wenn man ohne viel bequemer und genauso gut leben kann? Eine Argumentation, die in sich schlüssig und auch rechnerisch richtig ist. Aber eben nur, solange es einen Sozialstaat gibt. Der scheint am Ende zu sein, auch deswegen dieser Beitrag.

Auf die Migranten von 2015 folgten 2017 auf den Berliner Straßen Illegale, die für Uber Mietwagen fuhren. Keine drei Jahre später verlor ich wegen ihnen nach 25 Jahren „on the road“ meine Arbeit als Taxifahrer. Taxifahren in Berlin war nicht nur irgendein Job für mich.

Bildbeschreibung

Als ich mir erlaubte, gegen Uber zu protestieren, wurde ich von jungen Männern in schwarzer Kleidung, die sich selbst als „Nazi-Hunter“ bezeichneten, am helllichten Tage bei mir im Friedrichshainer Kiez als „Nazi“ beleidigt und bedroht. Die Begründung meines Protests schmetterte ihr Anführer kurzerhand ab: „Taxifahrer konnte ich noch nie leiden!“ Meine Anzeige wegen Beleidigung verlief ins Leere. Ich hätte mir einen Anwalt nehmen müssen, wozu mir mangels Rechtsschutzversicherung die Mittel fehlten.

Natürlich weiß ich, dass ich kein Nazi bin. Weder, weil ich gegen die illegalen Geschäftspraktiken von Uber protestiere, die meiner Einschätzung nach bis heute fortbestehen. Und auch nicht, wenn ich die illegale Einwanderung auch aufgrund eigener Erfahrungen kritisch hinterfrage. Zu denken gibt mir, dass dies heutzutage ein Problem ist. Und da frage ich mich, ob die eigentlichen Nazis nicht vielleicht die anderen sind. Denn: Faschismus beginnt im Kopf.

Beispielsweise wenn man, so wie Nikolaus Blome es in seiner Spiegel-Kolumne getan hat, ungestraft die ganze Republik dazu auffordern darf, sie möge mit dem Finger auf Menschen wie mich zeigen. Es waren Menschen gemeint, die sich gegen eine wenig erforschte Impfung entschieden hatten und von ihrem in der Verfassung garantierten Recht auf körperliche Unversehrtheit Gebrauch machten. Man stelle sich vor, jemand hätte dazu aufgefordert, die ganze Republik möge mit dem Finger auf queere Menschen zeigen.

„Nur für …“ oder „Nicht für …“, wie es unter G2 an der Tagesordnung war, hatten wir schon einmal in diesem Land. Allerdings nicht in der DDR, es war in Nazideutschland. „Nur für …“ oder „Nicht für …“ ist nicht einfach nur diskriminierend. Ebenso das „Wir impfen euch alle!“ der sogenannten Antifa, vor dem ich mich in Bulgarien in Sicherheit gebracht habe. Nicht nur, weil es ein klarer Verstoß gegen das in der Verfassung garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit darstellt. Es ist, so denke ich, Faschismus im Kopf.

Spätestens seit die RKI-Protokolle offen liegen ist klar, dass die sogenannten Verschwörungstheoretiker mit vielem Recht hatten. Im Robert Koch-Institut wusste man von Anfang an, dass viele Entscheidungen in der Corona-Zeit „politisches Management“ waren und nicht DER Wissenschaft geschuldet. Überhaupt: DIE Wissenschaft gibt es nicht. Jeder, der dies behauptet, hat sich als Wissenschaftler disqualifiziert. Wissenschaft ist immer These, Antithese und Synthese.

Meine aktuelle Erfahrung in Berlin, nachdem ich viel Zeit in Bulgarien verbracht habe: Die allermeisten haben noch nie etwas von den RKI-Protokollen gehört, was einen Austausch praktisch unmöglich macht. Im Gegensatz dazu konnte man in der DDR davon ausgehen, dass alle Westfernsehen schauen. Es gab nur ganz wenige Ausnahmen, sogenannte 150-Prozentige. Heute ist das schwieriger zu beurteilen, was nicht nur an der Digitalisierung liegt. Meiner Beobachtung nach vertraut eine große Mehrheit immer noch den Mainstream-Medien. Da ist es nun aber so, dass die Öffentlich-Rechtlichen ihren Auftrag, umfassend und ausgewogen zu informieren, nicht mehr erfühlen. Hinzu kommt, dass im Spiegel und in der Süddeutschen, um nur zwei Beispiele zu nennen, über bestimmte Themen nicht mehr oder nur verzerrt berichtet wird. Warum das so, ist ein anderes Thema.

Weder die Tagesschau noch der Spiegel oder die Süddeutsche haben heute noch etwas mit dem Licht und der Hoffnung zu tun, die sie einst in der DDR verbreiteten. Dass ich noch einmal erleben muss, dass die Tagesschau immer mehr zur Aktuellen Kamera wird, die Nachrichtensendung der DDR, hätte ich mir selbst in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können. Auch wenn damals nicht viele die Aktuelle Kamera schauten, wussten am Ende alle, was dort gesagt wurde, was sie denken sollten.

Und so ist mein Eindruck auch heute: Die Menschen wissen nur das, was sie wissen sollen. Dinge zu hinterfragen, wurde ihnen spätestens mit Corona ausgetrieben. Regeln „dürfen nie hinterfragt werden“ (RKI-Präsident und Tierarzt Lothar Wieler auf einer Pressekonferenz). Deshalb sagt heute auch niemand mehr, dass er es eigentlich ganz anders sieht. Natürlich auch deswegen, weil es heute mehr zu verlieren gibt als damals, zumindest gefühlt. Dass es tatsächlich so ist, daran habe ich immer mehr Zweifel. Immer öfter muss ich an Thesen aus meiner DDR-Schulzeit denken. Zum Beispiel, dass der Kapitalismus vor allem eines braucht: dumme Konsumenten. Nur: Wie lange wird es noch was zu konsumieren geben?

Und damit zurück zum Staatsbürgerkundeunterricht. Ich sah meinen Lehrer nach dem Mauerfall wieder. Man sieht sich ja immer zweimal im Leben. Ausgerechnet auf einer Lesung von Hans-Joachim Maaz zu seinem Bestseller „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“. Im Anschluss meldete sich mein Lehrer zu Wort und erzählte, dass er von der Stasi überwacht wurde und deshalb solche Fragen im Unterricht stellen musste. Ob es stimmt? Ich weiß es nicht.

Für diesen Lehrer war es ganz offensichtlich die Wahrheit. Ich frage mich, inwieweit es auch heute zur Wahrheit vieler Menschen gehört, in irgendeiner Art und Weise kontrolliert und überwacht zu werden. Natürlich nicht durch die Stasi. Die gibt es zum Glück nicht mehr. Sondern in dem Sinne, wie es die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley schon im Frühjahr 1991 befürchtete:

Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.

Rumen Milkow sitzt alle vier Wochen am Welt-Tresen und schreibt über Neues aus Bulgarien. Webseite des Autors

Bildquellen: wal_172619 @Pixabay