Paulina Tsvetanova (41) ist gebürtige Bulgarin, Modedesignerin, Buchautorin und Weltreisende. Sie lebt seit 23 Jahren in Deutschland, davon 15 in Berlin. Demnächst erscheint ihr Buch „Heimat? Die Sehnsucht nach.“
Paulina, Du sprichst Deutsch mit badischem Akzent. Wie ist das passiert?
Mit meiner Zwillingsschwester kam ich nach Freiburg, da waren wir beide 18. Badisch war unsere erste Fremdsprache. Ich habe Kunstgeschichte und Philosophie studiert, dann noch Byzantinistik. Bald werde ich meine Doktorarbeit im Bereich Perimortale Wissenschaft abschließen. Ich habe elf Ausbildungen im Bereich Kulturmanagement absolviert und jahrelang als Kuratorin im Verlagswesen und Kulturmanagement gearbeitet, bevor ich mich mit meinem Label PAULINA'S FRIENDS selbstständig gemacht habe. Seit 2016 bin ich international aktiv als Modedesignerin und Buchautorin und hatte vier Läden in Berlin – Galerien und Concept Stores.

Wie siehst Du Dich heute?
Ich lebe inzwischen länger in Deutschland als in Bulgarien. Vor rund fünfzehn Jahren bin ich vom Starnberger See nach Berlin-Oberschöneweide gezogen. Ich fühle mich als Deutsch-Bulgarin oder Bulgarisch-Deutsche, als Weltbürgerin, Kosmopolitin und Weltenbummlerin. Ich sehe mich nicht als klassische „Bulgarin in Berlin“. Nach Berlin bin ich wegen einer Frau gekommen, sie war meine beste Freundin. Ich suchte nach einem emotionalen Gegenpol, einem Zwillingsersatz, und tauschte den Starnberger See gegen ein Gartenhaus in Oberschöneweide.
Wie waren die finanziellen Verhältnisse in Deiner Familie?
Ich komme aus einem armen Elternhaus. Teilweise haben wir in Stolipinowo gelebt, einem Stadtteil von Plowdiw und mit etwa 45.000 Einwohnern die größte Roma-Siedlung auf der Balkanhalbinsel. Und nein, ich habe nie reich geheiratet. Meine Zwillingsschwester ging nach Paris, um zu promovieren. Unsere Familie ist auf fünf Länder verteilt. Mein Freund ist Amerikaner und ich lebe teilweise auch auf Teneriffa.
Was hat Dich nach Deutschland gebracht?
Wir sind Kinder der neunziger Jahre, eine Generation, die nachgeholt hat, was unsere Eltern nicht durften: Reisen, die Welt erobern. Für uns war die Welt ein Dorf, wir glaubten, sie gehört uns. Wir sind unersättliche Weltreisende. Und wir machen uns die Welt so, wie sie uns gefällt. Ohne übertrieben politisch korrekt zu sein. Meine Schwester und ich wollten eigentlich auf das Staatliche Englische Gymnasium, den Test of English as a Foreign Language (TOEFL) und den Scholastic Assessment Test (SAT) machen, danach Harvard oder Oxford besuchen. Einige Punkte fehlten, und so wurde es Deutschland – unsere zweite Wahl. Eigentlich wollten wir Modedesign oder „irgendwas mit Kunst“ studieren, waren aber zu feige für die Aufnahmeprüfungen. Wir waren schon immer Streberinnen, intrinsisch motiviert und leistungsorientiert. Nach dem zwölften Lebensjahr kamen wir auf die Deutsche Schule, Leistungsklasse, alle Fächer auf Deutsch, nur Literatur und Sport nicht, deutsche Muttersprachler als Lehrer.
Erinnerst Du Dich noch, wie Du damals über Deutschland gedacht hast?
Deutschland war für uns ein Hoffnungsland – in den 1990ern und frühen 2000er-Jahren, aber nicht mehr heute. Mit dem Wissen und der Erfahrung von heute würde ich nie wieder nach Deutschland auswandern. Meine Landsleute kommen übers Wochenende nach Berlin, einen Konzertbesuch ist Berlin wert, zwei Stunden Flug, alles easy. Bulgarien ist nicht mehr das, was es damals war. Damals wollten wir nur weg, heute wollen wir weg von hier, wissen aber nicht wohin.

Deutschland war meine Wahlheimat, eine Art Hoffnungsland. Wenn Du hier Fuß gefasst hast, hattest Du es „geschafft“. Ich habe damals als Putzfrau gearbeitet, zwanzig Euro die Stunde, fünf Jobs neben dem Studium, nur um zu überleben. Zwei Personen durften in Freiburg nicht auf weniger als 45 Quadratmetern wohnen. Wir konnten diesen Standard kaum halten, nur mit mehreren Jobs. Neben dem Studium waren wir schwerst magersüchtig, haben überperformt, um uns zu beweisen und die Liebe unserer Eltern zu verdienen. Wir wollten wertvoll und gleichwertig sein. Wegen der Magersucht war ich auf der Intensivstation und bin dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch da bin!
Wie hat sich Deutschland Deiner Meinung nach verändert?
Heute ist Deutschland für mich ein durchschnittliches europäisches Land, keine Wirtschaftsmacht mehr, ein Land, in das eigentlich jeder hineindarf. Ich habe fünfzehn Jahre gekämpft, um den deutschen Pass zu bekommen. Beim ersten Versuch wurde ich abgelehnt, weil ich nicht genug Steuern gezahlt hatte. Als ich Verlagsleiterin wurde, bekam ich sofort den Pass – mein Ticket in die große Welt. Seitdem sehe ich mich als Weltbürgerin. Aber eigentlich hätte ich die Weltreisen auch mit dem bulgarischen Pass machen können. Seit der Flüchtlingskrise und der Corona-Krise empfinde ich das soziale Klima hier unerträglich, asozial, dreckig, ruppig. Ich halte es hier teilweise nicht mehr aus. Ja, ich bin richtig desillusioniert und demotiviert, mein Potenzial hier teilweise zu verschwenden. Das hat größtenteils mit der falschen Politik zu tun und mit der fehlenden wirtschaftlichen Unterstützung für Unternehmer – wir mussten sogar unsere Corona-Hilfen zurückzahlen.
Fühlst Du Dich als Deutsche?
Ich identifiziere mich nicht über „deutsch“ oder „bulgarisch“. Meine Identität ist komplexer, wie die Patchworkdecke meiner Oma. Ich habe 70 Länder bereist, den Titel eines Romans des bulgarischen Autors Ilija Trojanov habe ich mir zum Motto gemacht: Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. Im Herzen bin ich eine Frau vom Balkan, sehe das Große und die Gemeinsamkeiten mehr als die Unterschiede. Deutschland ist heute ein Einwanderungsland für viele geworden, die diesen Status gar nicht verdienen. Ich habe nichts gegen Einwanderung, aber sie sollte kontrolliert sein und man sollte Sprache und Kultur respektieren und sich integrieren wollen beziehungsweise es dürfte einem nicht schwer gemacht werden. Qualitätskontrollen gibt es kaum noch, jeder darf kommen. Man muss sich nicht mehr anstrengen, und ich zahle Steuern für Menschen, die nicht einmal die Sprache sprechen. Deutschland wäre aber ohne die Ausländer nichts, wer würde hier sonst extra arbeiten wollen, Kinder zur Welt bringen, die Drecksarbeit machen?! Für mich hat Deutschland eine Massenpsychose seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist keine Wirtschaftsmacht mehr und keine Wahlheimat, aber ein Ort, zu den ich gerne zurückkehre, um meine Koffer umzupacken. Meine Basis, mein Zufluchtsort für zwischendurch. Meine Freunde, meine engsten Menschen und viele meiner Kunden sind Deutsche – das weiß ich sehr zu schätzen. Ich habe sechs Stipendien aus Deutschland bekommen und Anerkennung erfahren. Irgendwo liebe ich Deutschland sehr! Aber der Preis war zu hoch. Meine Familie wanderte in den 1990er Jahren mit der Green Card in die Vereinigten Staaten aus und hat ausgesorgt. Ich habe oft gedacht: Hätte ich das damals auch gemacht. Meine schönsten Jahre sind hier vergangen.
Was sind Deine Pläne?
Ich stelle mir nicht mehr die Frage, ob ich komplett nach Bulgarien gehe. Natürlich werde ich teilweise dort sein, aber ich sehe mich eher staatenlos, als Weltbürgerin und Weltenbummlerin. Ich habe das Recht, mir das Beste vom Besten auszusuchen. Ich habe lange genug dafür gearbeitet. Als Unternehmerin habe ich das Recht, mir auch Steueroasen zu suchen. Ich möchte nicht in Deutschland Steuern zahlen für Menschen, die auf der faulen Haut liegen, die psychisch krank sind – aus Komfort oder weil die Jobs zu schlecht bezahlt sind. Das ist kein Gerede der AfD, sondern die Meinung vieler Menschen mit Migrationshintergrund. Ich gebe solchen Menschen einen Job in meinem Unternehmen, zum Beispiel einer Ukrainerin, und ich zahle Steuern für Einkommen, das ich nicht mal erwirtschaftet habe. Deutschland unterstützt nicht das unternehmerische Denken, sondern die soziale Hängematte, Bequemlichkeit, Anspruchsdenken. Da bin ich raus. Wenn Du was wuppen willst, musst Du den Arsch hochkriegen, so einfach ist es.
Was ist für Dich Heimat, wo bist Du zu Hause?
Viele kulturelle Unterschiede hindern mich selbst nach 23 Jahren noch daran, in Deutschland wirklich Fuß zu fassen. Ich habe auch keinen Bock mehr auf die Fragen „Wo kommst Du eigentlich her“ beziehungsweise „Gehst Du irgendwann zurück“. Mein Escape ist die große, weite Welt, die hundertneunzig Länder, die ich noch besuchen möchte. Ich kaufe Stoffe aus aller Welt – das ist meine Rettung, meine sinnstiftende Tätigkeit, geboren aus meiner Heimatlosigkeit. Eigentlich ist es egal, wo man lebt. Zu Hause ist man dort, wo man geliebt wird. Und wo man sich möglichst wenig erklären muss.
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