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Interview | 04.07.2023
Die Frage nach dem Sinn ist etwas Positives
An einer Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg begleitet Henry Boll auffällige Jugendliche. Mit der Zeit lernen sie: Weiterdenken hilft.
Text: Sarah Kaßner
 
 

Berlin-Kreuzberg gilt als Bezirk mit besonderen Herausforderungen. Armut und Kriminalität sind Beispiele hierfür. Tragisch können diese Umstände für Jugendliche sein, die Kriminelle als Vorbilder haben. Manche erkennen ihre Fähigkeiten nicht, haben keinen Glauben an sich und sehen ihre eigene Zukunft im Milieu. Der Situation hilflos ausgeliefert sind sie aber nicht – das glaubt der Förderlehrer Henry Boll. In den 1990er und 2000er Jahren ist er selbst in Kreuzberg aufgewachsen. Mit 19 Jahren ging Boll in die Selbständigkeit und war einige Jahre im Handwerk sowie in eigenen Projekten tätig. Seit 2017 studiert er Kultur- und Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2021 arbeitete er als Pädagogischer Assistent an der Albrecht-von-Graefe-Oberschule in Kreuzberg. Im Januar 2023 begann er als Förderlehrer an der Hector-Peterson-Schule.

Bildbeschreibung

Herr Boll, wie sind Sie Förderlehrer geworden?

Über eine Ausschreibung des Senats. Mich hat schon immer sehr interessiert, mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten. Förderlehrer sind eine Besonderheit. An meiner Schule bin ich der einzige und auch nur zwei Tage vor Ort. Viele Berliner Schulen haben das Angebot nicht.

Was begeistert Sie daran?

Ich habe einen guten Zugang zu Jugendlichen. Es ist ein Alter, in dem ich selber viele Umbrüche hatte und sie bewusst wahrgenommen habe. Jugendliche sind reflektiert und können sich mit Problemen auseinandersetzen. Als Förderlehrer betreue ich sie entweder in der Unterrichtsbegleitung oder arbeite einzeln mit ihnen. Das Tolle daran ist, dass ich merke, wie meine Motivation auf fruchtbaren Boden fällt und ich Fortschritte erleben kann. Die Schüler wachsen über sich hinaus und sind dankbar. Manchmal ist es lustig, manchmal aber auch emotional aufreibend. Abwechslung habe ich immer.

Wen betreuen Sie?

Viele stammen aus ökonomisch ärmeren Familien. Die Auffälligen kommen in die Einzelbetreuung. Und: Für die Einzelbetreuung sind mir aktuell nur Jungen zugeteilt. Sie fallen häufiger auf als Mädchen. Das heißt aber nicht, dass die weniger auffälligen Kids keine Probleme haben. Wenn ein Mädchen nie etwas sagt und sehr in sich gekehrt ist, ist das in meinen Augen auch problematisch. Der Klasse ist aber eventuell mehr geholfen, wenn die lauten Kids in die Einzelbetreuung gehen. Die „Störenfriede“ halten den Unterricht auf und hindern die Klasse am Lernen. In der Einzelbetreuung sind sie häufig aufmerksamer.

Was bringen Sie aus Ihrer eigenen Schulzeit ein?

Ich möchte die Schüler nicht von oben herab behandeln, sondern in einen Austausch gehen. Die Frage „Wofür lerne ich das?“ ist bei vielen sehr präsent. Viele haben private Probleme und fragen sich: Brauche ich das überhaupt? Sie entwickeln eine Stressabwehr und nehmen die Schule als zusätzliche Belastung wahr. Es kann auch ein kritischer Geist dahinterstecken, der Präsentiertes hinterfragt. Das ist nicht nur legitim, sondern kann individuell und gesellschaftlich auch fruchtbar sein.

Worum geht es in der Einzelbetreuung?

Neben fachbezogener inhaltlicher Arbeit auch um Drogen, Kriminalität, Geld, Frauenbilder. Manche sagen: Ich kann doch auch so mein Geld machen. Wozu brauche ich die Schule? Ich erkläre den Kids, wo dieser Weg enden kann. Die Fragen nach dem Sinn sind etwas Positives und sollten meiner Meinung nach nicht weggecancelt werden. In meiner Schulzeit haben solche Gespräche leider eher nicht stattgefunden. Es ist wichtig, die Fragen der Jugendlichen zu beantworten.

Wie machen Sie das konkret?

Wenn jemand das Fach Deutsch infrage stellt, erzähle ich, dass man dadurch einen besseren Zugang zur Sprache bekommt und seine Argumentationsfähigkeit stärken kann. Die Welt wird bunter, wenn man einen großen Wortschatz hat und verschiedene Begriffe verwenden kann.

Und Mathe?

Durch das Fach stärken die Kids ihr logisches Denken. Mathe kann entweder direkt helfen, wenn ein Schüler beispielsweise eine Ausbildung in einem wirtschaftlichen oder technischen Bereich macht. Oder es hilft indirekt durch das logische Denken. Die Jugendlichen können dadurch lernen, besser zu erkennen, ob ein Sachverhalt schlüssig ist oder eine Argumentation Sinn ergibt. Häufig spreche ich solche Themen von mir aus an. Es ist aber vor allem wichtig, wie man etwas sagt, und weniger, was genau man sagt. Wichtig ist, dass die Schüler einen ernst nehmen. Sie kommen häufig aus Familien, in denen der Stil eher autoritär ist und teilweise auch Vorbilder fehlen. Das heißt nicht, dass ich diese Hierarchie einfach übernehme. Mein Motto ist vielmehr: Das beste Argument soll zählen. Ich stelle durch meine Person, mein Wissen und meine Argumente eine andere Art Autorität her, die organisch entsteht und nicht aufgedrückt wird. Diese Autorität entwickelt sich nicht über Angst, sondern durch Respekt.

Ich kann mir vorstellen, dass Sprachbarrieren im Schulalltag eine Rolle spielen.

Manche Kinder können kaum Deutsch. Diese Schüler kommen aus Ländern wie der Ukraine, aus Rumänien oder Syrien, sind noch nicht lange in Deutschland und können den Kurs „Deutsch als Zweitsprache“ besuchen. Diese Schüler sind aber die Minderheit. Ein anderer Teil hat einen eher kleineren Wortschatz und kennt einfache Begriffe nicht. Viele Schüler können sich aber auch gut verständigen und sprechen flüssig.

Was sind die größten Probleme?

Häufig setzen die Kids am Ende des Satzes keinen Punkt oder schreiben den Satzanfang nicht groß. Meine Vermutung ist, dass das am Chatten und an der Smartphone-Nutzung liegt. Dort achten sie eher weniger auf die Interpunktion. Außerdem stellt auch die richtige Verwendung von Artikeln teilweise ein Problem dar. Die größten Hindernisse, die sich dann auch im Sprechen bemerkbar machen, sind aber Verständnis- und Ausdrucksschwierigkeiten durch einen kleinen Wortschatz.

Haben Sie ein Highlight in Ihrer bisherigen Arbeit?

Ich habe einen Schüler, der grundsätzlich keinen Spaß an der Schule hat, sehr lustlos ist, häufig krank wird und einen abgespeckten Stundenplan hat. Das Fach Mathe mag er am wenigsten. Diesem Jungen habe ich angeboten, dass wir jeden Freitag eine Stunde Mathe lernen. Ich bin in der Einzelbetreuung oft sehr enthusiastisch und motivierend, dort bin ich dann zum Beispiel durch den Raum gelaufen, habe gestikuliert und ihm lautstark gesagt: Du kannst mehr als du denkst! Denk nach, du kannst das! Wenn er wirklich nicht weiterkam, habe ich ihm Tipps gegeben und ihn unterstützt – aber nur so viel wie nötig. Ein Wechselspiel von Herausforderung und Tipps geben. Es geht nicht darum, dass er ein Mathe-Genie wird, sondern dass er etwas lernt und sich für das Thema öffnet. Das Highlight kam zum Ende der Stunde als er sagte: Es hat mir heute Spaß gemacht. „Du kannst mehr als du denkst“ ist sowieso einer meiner Lieblingssätze gegenüber den Jugendlichen. Ich finde es schön, sie in ihrem Selbstwert zu unterstützen.

Inwieweit kann die Digitalisierung den Schulalltag erleichtern?

Ich arbeite ausschließlich analog und finde das gut so. Im Unterricht nutzen die Lehrer aber auch digitale Formate. Manchmal sollen die Kids zum Beispiel ein Quiz auf dem Handy ausfüllen. Die Ergebnisse werden live an dem White-Board angezeigt. Das hat Vorteile und bietet eine gewisse Flexibilität. Der tatsächliche soziale Raum ist aber besser analog, vor Ort, gegeben. Digitales Lernen von Zuhause aus kann den sozialen Raum Schule nicht gleichwertig ersetzen. In der Schule lernt man, mit unterschiedlichen Menschen umzugehen. Digital ist es leichter, Leute auszublenden, die nicht zum Freundeskreis gehören. Die Schule ist natürlich nicht der einzige soziale Raum. Es gibt auch Vereine und Kultureinrichtungen. Die Schule ist aber essenziell.

Was fehlt Ihnen derzeit in der Schuldbildung?

Einige Themen kommen zu kurz. Wie funktioniert zum Beispiel unser Wirtschaftssystem? Darüber wird in der Schule kaum geredet. Oder das Thema Digitalisierung. Dazu sollte es jedes Jahr eine Projektwoche geben. Die Digitalisierung greift in Alltag, Ökonomie und soziales Leben ein. Cyber-Mobbing, Online-Dating, Shopping, Lernen: Die Digitalisierung betrifft viele Lebensbereiche. Man geht zur Schule, um für das Leben zu lernen. Die Schüler lernen vor allem logisches Verständnis, Argumentation, Sozial- und Lernverhalten. In einer Projektwoche zur Digitalisierung könnte das alles kombiniert und angewendet werden. Ebenso kommen die Themen Ernährung und Landwirtschaft inhaltlich zu kurz. Dabei ist die Ernährung die Grundlage unseres Lebens. Du bist, was du isst. Gerade Kinder aus sozial schwachen Familien ernähren sich häufig ungesund und sollten mehr darüber lernen. Schule sollte zu einem selbstbestimmten und emanzipierten Leben verhelfen. Wirtschaft, Digitalisierung, Ernährung: All das ist wichtig für ein selbstbestimmtes Leben.

Bildquellen: Titel: StockSnap, Pixabay; privat