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Bericht | 08.05.2023
Daniele Ganser: Simulierte Kritik
Kampf um Deutungshoheit: In Basel versucht sich ein universitäres Podium am bekanntesten Sohn der eigenen Hochschule.
Text: Matthias Gockel
 
 

Am 25. April 2023 fand an der Universität Basel eine Podiumsdiskussion statt. Sie trug den etwas irreführenden Titel: "Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen. Erzählungen über Russlands Krieg gegen die Ukraine". Irreführend war dieser Titel, weil er angesichts der geballten Expertise auf dem Podium eine genauere Analyse dieser "Erzählungen" erwarten ließ. Es ging jedoch nur um eine dieser "Erzählungen", die aktuell eine große Reichweite hat. Zudem wurde die Veranstaltung öffentlich als 'Gegenveranstaltung' zu Gansers zwei Basler Vorträgen in derselben Woche angekündigt. Das Podium wollte einen aktiven Beitrag im Kampf um Deutungshoheit leisten.

Beginnen wir von vorne. Auf dem Podium saßen in der Reihenfolge des Auftretens:

  • Christoph Keller (freischaffender Reporter, Autor und Moderator),
  • Prof. Nicola Gess (Germanistik, Universität Basel),
  • Prof. Sylvia Sasse (Slavistik, Universität Zürich),
  • Prof. Benjamin Schenk (Osteuropäische Geschichte, Universität Basel),
  • Sebastian Ramspeck (SRF, 2014–2020 EU- und Nato-Korrespondent in Brüssel) und
  • Prof. Oliver Nachtwey (Soziologie, Universität Basel).

Im Folgenden wird eine Zusammenfassung der wichtigsten Äußerungen geboten. Am Schluss folgt eine Bewertung. Alle als Zitat gekennzeichneten Teile sind O-Ton. Der Moderator zitierte einleitend aus einem Interview, das er vor mehreren Jahren mit Ganser führte. Ganser sagte damals, der entscheidende Unterschied zwischen Wissenschaft und Verschwörungstheorien liege in den "Fakten" und den "Quellen".

Nicola Gess begann mit einem Kurzreferat über "Halbwahrheiten", die wenige "faktoide" und viele "fiktive" Anteile haben. Das Wort "faktoid" war mir neu. Gess räumte ein, "natürlich" sei es oft schwer, "zu wissen, was stimmt und was nicht". Ein zentrales methodisches Prinzip zur Prüfung von Aussagen sei die Falsifikation, das heißt die Angabe von Bedingungen, unter denen eine Aussage widerlegbar ist. "Verschwörungstheorien" seien dazu nicht in der Lage. Vielmehr konstruieren sie, ähnlich wie ein Roman, "lineare Erzählungen" und verwenden eines der "ältesten Basis-Narrative überhaupt, den mythischen Kampf zwischen Gut und Böse". Beispiele wurden nicht genannt. Ist das im Westen aktuell dominierende Russland-Narrativ ebenfalls eine "lineare Erzählung", in der es um einen Kampf zwischen "Gut und Böse" geht?

Sylvia Sasse erwähnte, dass sie aktuell zu "russischer Desinformation" forscht. Ihre Kritik richtete sich gegen Gansers "konsequentes Schüren von Zweifeln an der Berichterstattung der Medien" und seine Behauptung, er würde "wegen seiner Kritik nicht mehr überall veröffentlicht werden". Beim größten russischen "Auslandspropagandasender" RT sei Ganser ein "beliebtes Beispiel dafür, dass die westliche Presse die Meinungsfreiheit einschränkt". Sasse bezeichnete dies als "Verkehrung ins Gegenteil: den anderen konsequent zu unterstellen, was man selbst tut, und umgekehrt, sich die positiv besetzten Begriffe des anderen aneignen." Wie Putin bezeichne Ganser zudem die "ukrainische Revolution von 2014 als Putsch der US-Regierung" und entwerte damit "den Protest derjenigen Menschen, die damals den Mut hatten, auf die Straße zu gehen". Sasse behauptete, die Menschen in Ostmitteleuropa hätten "Angst vor einer nochmaligen Besatzung" durch Russland, das müsse man verstehen und nicht kleinreden. Wollte sie damit suggerieren, diese Länder seien bis 1991 besetztes Gebiet gewesen?

Benjamin Schenk sagte, Leute wie Ganser würden sich "als Expert:innen inszenieren", haben aber "keine wissenschaftlichen Publikationen" zum Thema und sprechen nicht die "einschlägigen Sprachen". Er wiederholte damit genau das, was er vor kurzem der ARD über Ulrike Guérot und Gabriele Krone-Schmalz erzählte. In der Ukraine sei es 2014 um einen "Kampf" für "Freiheit" und "Demokratie" gegen das "korrupte Regime von Präsident Janukovytsch" gegangen. Ähnlich wie Sylvia Sasse behauptete Schenk, Gansers Kritik am "Euro-Maidan" sei ein "Schlag ins Gesicht" der beteiligten Menschen. Ferner bemerkte er, es finde ein "Krieg um Deutungshoheit" statt, ohne zu erwähnen, dass dies vielleicht nicht nur für Aussagen der russischen Seite gilt. Stattdessen ging er selbst in die Offensive und meinte: Wenn sich jemand "im Sinne des Kreml" zur Ukraine äußert, sei dies keine "unschuldige Meinungsäußerung", sondern eine "Parteinahme für den Aggressor". Wer darüber entscheidet, was "im Sinne des Kreml" ist, wurde nicht erläutert. Aber die implizite Drohung war deutlich: 'Wenn das, was Du sagst, im Sinne des Kreml ist, machst Du Dich schuldig'.

Sebastian Ramspeck unterstellte Ganser die Meinung, man könne "allen Medien nicht mehr trauen", mit "ein paar wenigen Ausnahmen" wie "sogenannten alternativen Webseiten". Ramspeck erklärte, er nehme an dem Podium teil, um sich der "Debatte" über dieses Misstrauen, die seit mehreren Jahren läuft, zu stellen. Doch seine weiteren Ausführungen schienen dieses Misstrauen eher zu befördern, da seine ‘Argumentation’ sich oft gegen Gansers Person richtete. So wunderte er sich, dass viele Menschen die Vorträge von Ganser besuchen. Man könne doch dessen YouTube-Videos kostenlos anschauen, und vieles, was Ganser "erzählt", sei "extrem banal". Dann verwies er auf Gansers Aussagen, dass es beim "Kriege machen usw." ums "Geschäft" gehe. Doch ebenso dürfe man Ganser unterstellen, dass es ihm "auch ums Geld geht". Man könne sich ausrechnen, "was der Mann verdient", nämlich sehr viel. Auch Benjamin Schenk äußerte sich zu Gansers Geld.

Oliver Nachtwey setzte zunächst einen Kontrapunkt, als er meinte, man solle Ganser nicht unterschätzen, denn dieser erziele große Resonanz: "Der macht die Bude voll". Weiterhin erklärte er, es gebe in den "westlichen liberalen Gesellschaften auch manchmal Probleme mit der Wahrheitspolitik". Als Beispiel nannte er Colin Powells Auftritt im UNO-Sicherheitsrat 2003 zur Legitimation des Angriffs gegen den Irak. Ganser knüpfe, vor allem in Deutschland, an real existierende Probleme an: die bestehende "Entfremdung" der Menschen von der "liberalen Demokratie" sowie "fehlende Selbstkritik". Vieles sei in den letzten 20 Jahren nicht gut gelaufen. Wenn von "Sachzwängen" geredet wird, sei das "auch politisch konstruiert". Insgesamt gebe es eine "mangelnde Krisenlösungskompetenz". Ganser stelle diese Dinge höchst unzureichend dar, und genau das mache ihn so "gefährlich". Durch "Verkettung von Andeutungen und Auslassungen" erwecke er immer den Eindruck: "Da steckt doch mehr dahinter". Außerdem behauptete Nachtwey, Ganser sei "wegen fehlender wissenschaftlicher Standards nicht habilitiert" worden.

Sylvia Schenk bemerkte, "wir" (das heißt: die Menschen im Westen) seien sensibilisiert für illegale und fragwürdige Kriege in den vergangenen Jahrzehnten: 1999 die NATO-Bombardierung Serbiens, 2003 der Angriff gegen Irak, aber auch die militärische Intervention in Libyen 2011. Das seien durchaus "Beispiele des amerikanischen Imperialismus". Die Kritik wurde allerdings relativiert. Ramspeck meinte, man solle das nicht "generalisieren". Jeder Staat sei "sehr kompliziert". Der Moderator meinte, aus "einzelnen Ereignissen" könne man kein "System" machen. Genau das mache Ganser, indem er alle Kriege auf "das Eine" zurückführe, die USA.

Als der Moderator fragte, welche "Bedürfnisse" mit Halbwahrheiten und "vereinfachenden, strukturell immer gleichen Diskursen" von Ganser und anderen bösen Jungs und Mädels "bedient werden", kam die Expertise an ihre Grenzen. Man räsonierte über die schwierigen Zeiten. Oliver Nachtwey wunderte sich über Gansers "komische" Plakate mit der Aufschrift "Wir sind eine Menschheitsfamilie" während des Corona-Winters 2021/22. Man vermutete ein "Erlösungsbedürfnis" und meinte, es fehle dazu auf dem Podium "die theologische Vertretung". Ramspeck ergänzte, es handle sich um ein "bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbares Bedürfnis", wenn Menschen sich danach sehnen, dass "all diese schrecklichen Probleme" einfach aufhören. Das "Erlösungsbedürfnis" prägt also nicht nur das Publikum Gansers.

Am Schluss sprach Nicola Gess von einem "Bedürfnis nach politischer Partizipation", welches zwar "fehlgelenkt", aber als solches "sinnvoll" sei. Erkennbar war auch das Bedürfnis nach Mobilisierung des Publikums, das im Schlussvotum von Benjamin Schenk zum Ausdruck kam:

Wie gehen wir damit um, dass bestimmte Institutionen der Wissenschaft, der Medien, der Politik grundlegend hinterfragt werden in ihrer Deutungsmacht, und was bedeutet das für unsere demokratischen Gesellschaften, wenn wir wissen, dass anti-demokratische Kräfte, auch von außen, ein großes Interesse daran haben, dass unsere offene Gesellschaft kollabiert?

Der erste Teil der Frage bedarf tatsächlich weiterer Reflexion. Doch der zweite Teil hat die Struktur einer "Verschwörungserzählung". Wer ist das "wir", an das Schenk hier appelliert, um die Gewissheit über ominöse "anti-demokratische Kräfte, auch von außen" zu stärken? Gehört Daniele Ganser auch zu diesen "anti-demokratischen Kräften"? Nachtwey bezeichnete ihn immerhin als "gefährlich". Drei Punkte zum Schluss:

  1. Gansers Position wurde oft entstellt wiedergegeben. Man beschränkte sich auf Schlagworte und Allgemeinplätze und brachte abseitige Themen ins Spiel, wie Ganser und das Geld. Das erklärt die Überschrift dieses Artikels: Kritik wurde "simuliert". Wissenschaftliche Sachlichkeit oder gar Fairness? Fehlanzeige. Ich hatte erwartet, dass zumindest exemplarisch belegt wird, welche Aussagen Gansers falsch sind. Doch offensichtlich ging es weniger um "Fakten" und "Quellen", sondern um Meinungen und Bewertungen. Und statt zu differenzieren, boten die Voten im Grunde genau das, was man Ganser vorwirft: Die Einteilung der Welt in Gut und Böse. Guter Westen (abgesehen von gelegentlichen "Fehlern"), gute Ukraine (seit 2014), böses Russland.

  2. Man hätte Ganser selbst einladen können, um mit ihm, statt über ihn zu reden. Aber das ging nicht, da es sich um eine ‘Gegenveranstaltung’ zu Gansers Vorträgen handelte. Man wollte einen aktiven Beitrag im Kampf für und gegen bestimmte Positionen im Meinungsstreit um den Ukraine-Krieg leisten. Außerdem gibt es eine lokale Vorgeschichte. Schon vor mehreren Jahren befasste sich die Universität Basel, an der Ganser 2001 promoviert wurde und bis 2015 mehrere Lehraufträge wahrnahm, mit ihrem wohl bekanntesten ‘Sohn’. Ein Artikel in der Wochenzeitung (WOZ) vom 19. Januar 2017 befragte dazu den Basler Soziologen Ueli Mäder, der sich "an intensive Diskussionen über Ganser mit dem Rektorat der Uni Basel" erinnerte. O-Ton Mäder: Das Rektorat "war der Ansicht, er [Ganser] sei zu belastend für den Ruf der Uni". Es geht also auch um außerwissenschaftliche Faktoren wie die Reputation öffentlicher Institutionen und – damit verbunden – politische Entscheidungen über öffentliche Gelder.

  3. Zum Schluss eine gute Nachricht: Niemand hat Gansers Aussagen als "antisemitisch" diffamiert.

Dr. Matthias Gockel ist Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.

Bildquellen: Ingo Wösner