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Rezension | 27.12.2022
Jenseits der To-do-Liste
Mit „Demokratie braucht Religion“ legt Hartmut Rosa ein Plädoyer für die Kirche vor. Sie könne dazu beitragen, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.
Text: Madita Hampe
 
 

Es ist ein schönes Buch zu Weihnachten. Gerade genug Tiefgang, um sich intellektuell angeregt, aber nicht überfordert zu fühlen. Hartmut Rosa skizziert einen Gedankengang, dem man gerne folgt, auch wenn man selbst wenig mit dem organisierten Christentum am Hut hat. Angenehm ist dabei vor allem der Verzicht, sich selbst in den Vordergrund zu spielen – als Professor für Soziologie an der Universität Jena, als Politikwissenschaftler, dessen Werke man gut und gerne auch für die eines Philosophen halten könnte, und als einer der bekanntesten Soziologen Deutschlands.

„Demokratie braucht Religion“ ist nach wenigen Wochen bereits Spiegelbestseller – zweifelsfrei auch, weil es weniger theoretische Abhandlung ist als kleiner gedanklicher Einwurf zur Zeitgeschichte. Alles in allem diskutiert das Buch die Frage, ob eine Gesellschaft, die immer schneller läuft und ihre politischen Debatten immer aggressiver austrägt, noch eine Institution Kirche braucht. Rosa beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. Seine These: Wir erleben momentan eine ernsthafte Krise der Gesellschaft und der Demokratie. Um aus dieser wieder herauszufinden, benötigen wir durchaus religiöse Einrichtungen, Traditionen, Praktiken, Gedankengebäude und Riten.

„Wir laufen vor dem Abgrund davon“

Jene Krise ist für Rosa die eines rasenden, atemlosen Stillstandes, einer Gesellschaft, die immer mehr produziert, um ihren Wohlstand zu bewahren. Es geht ihm dabei nicht darum, „dass eine Gesellschaft wächst zum Beispiel in der Bevölkerung oder auch in der ökonomischen Produktion, oder dass sie beschleunigt in vielerlei Hinsichten, sondern dass sie das muss, um den Status Quo zu erhalten“ (S. 30).

Kapitalistische Fortschrittslogik erzwingt ständige Ressourcensteigerung und führt zu Entfremdung als Grundproblem der Moderne. So weit, so bekannt aus der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Rosa erweiterte dieses Modell bereits vor etwa anderthalb Jahrzehnten um den Aspekt der Beschleunigung. Auch in „Demokratie braucht Religion“ spielt das eine wesentliche Rolle. Wir machen alles immer schneller und dennoch haben wir nicht mehr das Gefühl, einer verheißungsvollen Zukunft entgegenzugehen, sondern laufen vor einem Abgrund davon.

Damit hat er recht. Die Beschleunigung unserer Gesellschaft hat das Gefühl von Sinnentleerung entstehen lassen. An allen Ecken und Enden suchen wir verzweifelt nach Weltbildern, die uns Halt geben und dabei fast zu Ersatzreligionen werden. Corona-Autoritarismus, LGBTIQ, konservative Rollenbilder à la Andrew Tate. Die Namen der medialen Kühe, die durch das globale Dorf getrieben werden, vergisst man schnell. Sie sind kurzlebig.

Der Terror der To-do-Liste

Depressionen haben Konjunktur, und selbst aus ihnen wird noch Profit geschlagen. Rosa spricht von einer „Burn-out-Krise“ (S. 44). Sätze wie „Nächstes Jahr muss ich mal ein bisschen langsamer machen“ und das Gefühl von „lange geht das nicht mehr gut“ seien kulturell dominant geworden.

Dieser kollektive Stress geht auch am politischen Klima einer Demokratie nicht spurlos vorbei. „Unser Verhältnis zur Welt ist aggressiv, weil die To-do-Liste explodiert“ (S. 42). Der politisch Andersdenkende werde nicht mehr als Dialogpartner gesehen, mit dem man sich auseinandersetzen muss, sondern als ekelerregender Feind. Doch Demokratie funktioniert im Aggressionsmodus nicht.

Rosa erklärt so plausibel, was medial als „Spaltung der Gesellschaft“ rauf- und runtergebetet wird. Das Aggressionspotenzial ist hoch. Die Bereitschaft zum Dialog eher nicht. Impfen oder nicht impfen? Gendern oder nicht gendern? Das ist hier die Frage. Und die ist immer existenziell.

Kirche als Resonanzgeber

Und genau hier kommt für Hartmut Rosa die Religion ins Spiel. Als Leser des Buches ist es sicher sinnvoll, schon vor der Lektüre zumindest seinen Resonanzbegriff zu kennen. Resonanz ist für Rosa das, wonach alle Menschen im Grunde ihres Wesens streben: gelingende Beziehung – zu anderen Menschen, materiellen Dingen und den großen Phänomenen unserer Welt. Kunst, Musik oder eben Religion. Gerade letztere habe einer solchen Gesellschaft viel anzubieten, denn sie stelle Räume bereit, um innezuhalten und aus dem Aggressionsmodus herauszutreten.

Rosas Argumentation, warum gerade die Kirche hierfür die richtige Anlaufstelle sein soll, ist eher eine Aneinanderreihung von Denkanstößen. Es geht um das Konzept von Raum und Zeit und um die Metaphorik von Abendmahl und Dreifaltigkeit. Dinge, über die man an die 500 Seiten schwere Abhandlungen schreiben könnte, werden hier nur im Vorrübergehen gestreift. Im Kern ist der Sinn aller Riten und religiösen Praktiken für Rosa aber recht einfach auszumachen: Menschen die Möglichkeit geben, in Resonanz zu gehen und so Selbstwirksamkeit zu erfahren.

All jene, die Hartmut Rosa in seiner theoretischen Arbeit Unschärfe vorwerfen, jene, denen der Begriff der Resonanz schon immer zu schwammig war, werden ihre Kritik auch in diesem Buch bestätigt sehen. Dennoch: Rosas Argumentationsstrang ist nicht nur konsistent, sondern auch spannend. Seine soziologische Theorie läuft dabei eher wie ein Programm im Hintergrund. Sie drängt sich nicht auf. Man muss nicht zuerst Heidegger gelesen (und verstanden) haben, um zu begreifen, was Rosa mit Weltbezug und In-der-Welt-sein meint. „Demokratie braucht Religion“ liest sich schnell und leicht und doch regt das Buch an, vielleicht weniger schnell und dafür tiefer zu lesen und vor allem: innezuhalten in einer Welt, die an uns vorbeirast.

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. München: Kösel Verlag 2022, 75 Seiten, Preis: 12 Euro

Mitfahrer

Madita Hampe ist Studentin an der Freien Akademie für Medien & Journalismus.

Bildquellen: NoName_13 auf Pixabay