Seit den Europawahlen und den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg überfluten uns Erklärungen für diesen Trend „nach rechts“. Mal ist es die mangelnde Demokratieerfahrung der Ostdeutschen. Mal liegt es an Abstiegsängsten und am Gefühl des Abgehängtseins. Mal liegt es an Bildungsstand und Geschlecht – dumm und männlich wählt AfD. Mal wurde die Regierungspolitik nicht gut genug erklärt. Mal habe man es versäumt, die Menschen abzuholen und mitzunehmen. Bettina Schausten, die Chefredakteurin des ZDF, unterschied zwischen demokratischen und nicht demokratischen Wählern. Der Kabarettist Dieter Nuhr witzelte über solche Bewertungen und Erklärungsversuche: „In der Demokratie ist der Wähler das eigentliche Problem. Das Undemokratische ist doch: Der Wähler entscheidet, obwohl er sich nie einer Wahl stellen musste.“
Einer dieser Erklärungsversuche hatte jedoch eine andere Qualität: Unter der Überschrift „Wählen nach Gefühl. Die Persönlichkeit beeinflusst, wen man wählt“ berichtete Justus Bender in der F.A.Z. über psychologische Studien, die herausgefunden haben wollen, dass die Wahlentscheidung gar nicht von rationalen Gründen, sondern von der Persönlichkeit beeinflusst werde. So soll das Naturell der AfD-Wähler geprägt sein von Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Leistungsstreben und einer Vorliebe für Einheitlichkeit. Grünen-Wähler sind das Gegenteil davon. AfD-Wähler sind auch neurotischer als andere – leicht reizbar, nervös, ängstlich: Deutschland stirbt. Wir werden umgevolkt. Das Ende ist nah. Wer gern im Mittelpunkt steht, wählt eher FDP. Wer besonders offen ist für neue Erfahrungen, eher Grüne. Wer besonders verträglich ist, also hilfsbereit, mitfühlend, freundlich, wählt eher SPD. Und wer das nicht ist, auch eher AfD. Wer Ordnung, Pflicht und Leistung liebt, aber nicht neurotisch ist, gibt seine Stimme eher der CDU. Und wer einem ähnelt, den wählt man – und nicht den, der das hat, was einem fehlt. Angsthasen wählen keine Mutmacher, sondern AfD.
Aha! Sind also die Untergangs-Propheten der „Letzten Generation“ eine Außenstelle der AfD? Und waren es nicht eher die Grünen, die den Klimanotstand ausriefen, „umstritten“ für ein negatives Etikett hielten, sich in Umfragen als besonders staatsaffin zeigten und forderten, sich einheitlich hinter der Wissenschaft zu versammeln? Bei solchen „Forschungsergebnissen“ geht es mir wie Goethe: Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt. Ich erspare uns deshalb eine weitere Auseinandersetzung und komme zum Grundsätzlichen.
Die Wahlentscheidung, so die Botschaft der Psychologen, wird von der Persönlichkeit verfälscht. Mit anderen Worten: Wenn wir Personen ohne Persönlichkeit wären, hätten wir anders gewählt, sozusagen objektiver, rationaler, richtiger. Das dahinterstehende psychologisch-soziologische Konzept ist keine Unbekannte. Es findet sich seit jeher in allen Prägungstheorien. Die Freud’sche Psychologie erzählt uns, dass es hinter dem Bewusstsein noch ein Unterbewusstsein gibt, das unsere eigentliche Persönlichkeit ist. Es findet sich in der allgegenwärtigen und nobelpreisgekrönten Verhaltensökonomie. Es gipfelte im Libet-Experiment von 1979, das herausgefunden haben wollte, dass Menschen das Knie bewegen, bevor das Hirn entschieden hat, das Knie zu bewegen. Das Mantra der älteren Hirnforschung lautete: Nicht ich war es, es war mein Gehirn. Die Botschaft ist immer dieselbe: Du bist gar nicht du. Du denkst gar nicht, was du zu denken glaubst. Du willst gar nicht, was du zu wollen glaubst.
Alle diese Thesen sind schale Aufgüsse der uralten Homunculus-Theorie, nämlich der Annahme, dass unser Denken, Wollen und Entscheiden in Wirklichkeit von anderen Kräften ferngesteuert wird. Schnell landet man damit im unendlichen Regress, nämlich bei der Frage, wer denn die kleinen Männchen steuert, die unser Denken steuern. Werden sie von noch kleineren Männchen gesteuert? Und schnell landen wir beim ebenso alten Lügner-Paradox: Wenn unser aller Denken so sehr von fremden Kräften ferngesteuert wird, wovon werden die Psychologen ferngesteuert, die zu solchen Ergebnissen kommen? Welche Partei würden wir denn wählen, wenn unsere Wahlentscheidung nicht von unserer Persönlichkeit verfälscht wäre?
Jedenfalls gab es solche Studien nicht, als dieselben Wähler CDU, SPD, FDP oder Grüne gewählt haben. Die Persönlichkeitstheorie müsste auch erklären, durch welchen raffinierten Mechanismus dieselben psychisch auffälligen Ostdeutschen zunächst die klassischen Parteien gewählt und erst nach drei Jahrzehnten zu den Populisten gefunden haben. Ebenso auch, warum die mangelnde Demokratieerfahrung sich erst auswirkte, nachdem 35 Jahrgänge gar keine Diktatur mehr erlebt haben.
All diese Erklärungsversuche führen in methodische Widersprüche und letztlich in gelehrt daherkommenden Unsinn. Vor allem untergraben sie die Setzung der Demokratie, dass Bürger authentische und mündige Entscheidungen treffen. In der Tat werden die Wähler von niemandem gewählt, sondern von ihnen geht alle Staatsgewalt aus. Sie wählen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Einfach so. Wenn eine Regierung abgewählt wird, dann sind die Wähler nicht therapiebedürftig, sondern in den Augen der Wähler hat die Regierung keine gute Arbeit geleistet. Genau das nennt sich Demokratie.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen.
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