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Interview | 29.09.2024
Diplomat für alle Fälle
Jens Winkelmann steht zu Marx. Sein Vater war DDR-Botschafter in Moskau. Ein Gespräch über die Wende, Politik und Parteien in Ostdeutschland
Text: Mirko Jähnert
 
 

„Die DDR war nicht nur Stasi, Mauer und Stacheldraht“, sagt der 66-jährige Inhaber eines Einzelhandelsgeschäftes. Über die DDR diskutiert er gern. „Da gibt es viel Nichtwissen. Es gab durchaus Erhaltenswertes. Und der Respekt vor ostdeutschen Lebensläufen kommt zu kurz.“ Jens Winkelmann versucht, ein versachlichtes und differenziertes Bild der damaligen Republik zu vermitteln. Immerhin war er selbst einer ihrer Repräsentanten. Bis 1985 studierte er Politikwissenschaft. Anschließend arbeitete er im Außenministerium und wechselte dann in den Bundesvorstand des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), wo er die Sportbeziehungen zunächst mit Nordeuropa, Österreich, der Schweiz, Japan, den USA und Kanada sowie später mit den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas weiterentwickelte.

Bildbeschreibung

Diplomatie hat er von seinem Vater Egon gelernt. „Er war eigentlich untypisch für die damalige Führungsschicht. Kein Dogmatiker. Er dachte nicht in Hierarchien und behandelte jeden gleich, den Präsidenten und die Küchenfrau.“ Dieses Verhalten hat auch seinen Sohn beeinflusst. „Was ist ihr Lebensmotto?“, möchte ich von Winkelmann wissen. „Mir sind Respekt, Solidarität und soziale Empathie wichtig“, sagt er. „Und natürlich Frieden.“

Die Wendezeit

Ende 1989 rollten die Trabis über die Grenze und wurden mit Applaus empfangen. Die meisten Menschen in Ost und West verspürten Freude über den Fall der Mauer. Jens Winkelmann wohnte schon damals in Berlin und war mittendrin im Geschehen. Ihn trieben damals eher die Sorge um, in welche Richtung das Land steuert. „Ich hatte gehofft, wir hätten versucht, ein eigenes demokratisches Projekt zu machen. Politik mit Idealismus zu verbinden, das wäre damals möglich gewesen. Leider hatte die Politik damals kein Konzept.“

Politiker wie Helmut Kohl, die eine schnelle Wiedervereinigung wollten, waren beliebt. Wer Bedenken äußerte, beispielsweise Oskar Lafontaine, hatte es schwer. Jens Winkelmann: „Der Unterschied zwischen Ende 1989 und Anfang 1990 war enorm. Helmut Kohl wäre bei den kommenden Wahlen im Westen wohl abgewählt worden. Er besaß Machtbewusstsein und wusste die Situation mit seinem politischen Instinkt zu nutzen. Strategisches Denken findet in der Politik nicht statt. Es geht immer nur um die nächsten Jahre bis zur Wahl.“ Ich möchte wissen, was aus Kohls Versprechen der blühenden Landschaften geworden ist. „Ein Potemkinsches Dorf“, sagt Jens Winkelmann. „Die Städte und Straßen sehen ja schöner aus. Auf der anderen Seite war dann diese riesige Arbeitslosigkeit. 30 bis 40 Prozent der Industrie sind abgewandert, bei den ohnehin ländlichen Strukturen in Ostdeutschland. Viele Menschen sind deswegen weggegangen, und die demographische Struktur hat sich verändert. Auch der Zusammenhalt untereinander ist mit der Zeit weggefallen. Die Enttäuschung nach der Wende war groß.“

Winkelmann ist in seinem Element. Analytisch benennt er die Probleme, die in der damaligen Zeit entstanden und bis heute anhalten. Die Biografie der ostdeutschen Bevölkerung wurde nicht wertgeschätzt. Darüber wurde einfach nicht mehr gesprochen. Ein Phänomen, das es auch nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Neben der Deindustrialisierung wurde Arbeit schlechter bezahlt als im Westen. Bei den Renten ist es nicht anders. Winkelmann erwähnt auch, dass es kaum Konzernzentralen im Osten gibt. Dadurch sind die Kommunen klamm und müssen bei Infrastruktur, Bildung oder Kultur sparen. Es fehlt den Menschen an einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Von Schröder bis Merkel

1998 bis 2005 stellt die SPD mit Gerhard Schröder den Bundeskanzler. Seine Zeit wird unter anderem mit der Agenda 2010 verbunden, den sogenannten Hartz-Reformen. Wenn auch heftig kritisiert, sank die Arbeitslosigkeit von 2005 bis 2010 von 18 Prozent auf 11 Prozent. Also ein Erfolgsmodell? Winkelmann schüttelt den Kopf. „Überhaupt nicht. Es wurde ein riesiger Niedriglohnsektor geschaffen, der größte in Europa. Jobs, die normalerweise eine Festanstellung wären, wurden zu Minijobs. Dann gab es noch die Ein-Euro-Jobber. Wie sollte man davon eine Familie ernähren? Das hatte auch Auswirkung auf die Rentenansprüche. Das Armutsrisiko für Rentner hat sich verdoppelt. Für die Wirtschaft ist das super, aber nicht für den sozialen Zusammenhalt.“

Nach Schröder kam Angela Merkel, eine Ostdeutsche. Ob das für die neuen Bundesländer Vorteile gebracht hat, möchte ich von Jens Winkelmann wissen. Seiner Meinung nach hat Merkel Politik nur verwaltet, die Probleme aber im Nebel gelassen. „Es hat unter Merkel keine Visionen gegeben. Es war Stillstand. Der offene Diskurs in der Gesellschaft, in den Medien und der Wirtschaft wurde beendet.“ Er findet aber auch positive Worte: „Die Geschäfte mit dem Osten Europas hat sie gefördert. Merkel war eine Vertreterin des Wirtschaftskapitals, aber keine korrumpierte Politikerin. Sie hatte auch eine angenehme Gelassenheit gegenüber den USA.“

Links und Rechts

In den ostdeutschen Bundesländern waren linke und rechte Parteien schon immer stärker als im Westen. So wurde die Linke bei den Bundestagswahlen 2009 zweitstärkste Kraft mit 26 Prozent der Stimmen. Bei den aktuellen Landtagswahlen fährt dagegen die AfD große Stimmenanteile ein. Was sind die Ursachen dafür? „Damals war die Linke die Kümmerer-Partei“, sagt Winkelmann. „Sie hatte ausreichend Strukturen und Mitglieder und war stark genug, Forderungen zu stellen und Gehör zu finden. Das kam an bei den Menschen. Die Partei hätte sich aber später neu aufstellen müssen.“

Und was macht die AfD heute so stark? Ist der Osten rechts? „Die Rechtsparteien haben mit den Migranten die angeblich Schuldigen für den Zustand der Gesellschaft geliefert. Dadurch wurden sozial abgehängte Menschen schnell gewonnen. Die rechtskonservativen Kräfte haben die Lücke übernommen, die die Linke hinterlassen hat. Die fehlende Teilhabe führt dazu, dass sich die Menschen anderen Parteien zuwenden. Das ist keine rationelle Entscheidung, die meisten kennen nicht mal deren Parteiprogramm. Dazu kommt, dass bei den Altparteien jede Selbstreflexion fehlt.“

Jens Winkelmann spricht über die Zivilgesellschaft im Osten. Darüber, dass es keine bürgerliche Mitte, keinen ausgeprägten Mittelstand gibt, der eigentlich das Fundament der Gesellschaft bildet. „Ein gut funktionierender Mittelstand fördert das soziale Leben in den Städten. So gibt es niemanden, der die sozialen Probleme auffangen kann. Die gesellschaftliche Haftung der Menschen geht verloren. Und da es keine starke Linke mehr gibt, sind die Menschen leicht verführbar. Das Ergebnis ist ein Erstarken der Rechten.“

Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg hat die AfD Stimmzuwächse erzielt. Wie sieht Jens Winkelmann als Linker diese Ergebnisse? „Die AfD ist eine kapitalistische Partei. Sie vertritt nicht in erster Linie die Interessen der Menschen. Ich halte das Wahlverhalten für destruktiv.“ Winkelmann sieht die Gefahr, dass ein Erstarken der AfD zivile Projekte behindern wird. Er meint damit beispielsweise ehrenamtliches Engagement. „Dort, wo die AfD auf kommunaler Ebene entscheiden kann, werden bereits Gelder für linke Vereine gestrichen.“ Die Schuld für die Wahlergebnisse sieht er bei den etablierten Parteien, die sich völlig abschotten. „Es gibt kein Hinterfragen. Als Ostdeutscher ist man geschult, wenn Politik in eine Sackgasse läuft und nicht selbst herausfindet.“ Die bundesdeutsche Demokratie hält er nur für repräsentativ, eine echte Teilhabe der Menschen fehlt. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht ja immer weiter auseinander.“ Man müsse mehr Geld in die Hand nehmen, für die Menschen, für kulturelle Infrastruktur, für Straßenbau. Im Moment sieht er nur das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ dazu in der Lage, etwas bewegen zu können.

Das Verhältnis zu Russland

Aus einer Pflichtfreundschaft zu DDR-Zeiten wurde bei Jens Winkelmann im Laufe der Nachwendezeit echtes Verständnis. Vom „Russlandgegner“ zum „Russlandversteher“, wie Simone Schellack 2023 im Deutschlandfunk über Ostdeutsche schrieb? Mit diesen Begriffen kann er nichts anfangen. Für Winkelmann sind das Narrative derer, die Russland die Alleinschuld am Krieg in der Ukraine zuweisen. Damit solle jede Diskussion abgewürgt werden. Winkelmann weiter: „Der Westen nimmt die Vorgeschichte des Konfliktes nicht zur Kenntnis. Die dortige historische Amerika-Bindung sorgt für eine unkritische Haltung gegenüber den USA. Im Osten kann man sich dagegen gut an die Geschichte erinnern, zum Beispiel an Vietnam und andere Kriege. Man weiß, dass die Vereinigten Staaten nicht die Guten sind. In der DDR wurde keine Feindschaft zwischen Völkern propagiert. Die alten Feindbilder kommen auch daher, dass im Westen die Nazizeit nie aufgearbeitet wurde. Nach dem Krieg wurden wirtschaftliche und politische Eliten aus dieser Vergangenheit in die BRD integriert. In der DDR dagegen gab es ein klares Bekenntnis zum Antifaschismus.“

Und was sagt er zu Ilko-Sascha Kowalczuk, einem Historiker, aufgewachsen in der DDR, der meint, „die Ostdeutschen“ hätten „wenig Ahnung von Russland“ und könnten „mit Freiheit nie etwas anfangen“? „Das ist Unsinn. Tausende DDR-Bürger haben in der Sowjetunion gearbeitet, kennen die Menschen dort. Die Kontakte waren da. Es gab Schüleraustausche und Städtepartnerschaften. Und was die Freiheit angeht: Die ersten freien Wahlen 1990 sind ja schließlich auch im Osten ohne Probleme abgelaufen. Die Deutschen haben auch in der BRD die Demokratie nicht erfunden, sondern mussten dazu gezwungen werden.“ Seiner Meinung nach lässt sich Kowalczuk für die westdeutsche Sicht auf die DDR einspannen. „Ich habe ihn eingeladen, mit mir zu diskutieren. Er hat abgesagt.“

Die Grünen, die Medien und der Ukrainekonflikt

Ich frage Jens Winkelmann, warum die Grünen im Osten so unbeliebt sind. Für ihn moralisiert die Partei zu stark und nimmt die Leute nicht mit. Die Grünen haben kaum eine Basis im Osten und gelten als abgehoben. Die Partei vertritt ein gehobenes Milieu, nicht die Menschen im Osten, die oft in der unteren Schicht geblieben sind. Außerdem würden die Grünen eine gefährliche Außenpolitik machen, die nicht im Interesse Deutschlands oder Europas ist. „Das begann schon in den 1990er Jahren. Joschka Fischer und die damalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright waren eng befreundet.“

Wir kommen auf den Ukrainekrieg zu sprechen und auf die Berichterstattung der Medien. Winkelmann: „Der Journalismus ist in einer Krise seiner selbst. Die Leitmedien sind stark an das Staatsnarrativ angelehnt. Widersprüche werden nicht herausgearbeitet. Die geschichtliche Entwicklung wird nicht analysiert.“ Für Jens Winkelmann ist Journalismus kein politischer Beruf. Er soll sachlich informieren.

Ich möchte wissen, wie sich die Bundesregierung im Ukrainekonflikt seiner Ansicht nach verhalten müsste. Seine Antwort ist deutlich und klar: Die Diplomatie muss in den Fokus gerückt werden. „Wir wurden nicht angegriffen.“ Dann verweist er auf das Friedensgebot im Grundgesetz. Dass die reale Politik anders handelt, liege zum Teil an den Beratern aus Denkfabriken wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) oder der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Winkelmann findet, die Politik hat sich destruktive Berater gewählt. „Wir machen eher US-Politik, als dass wir unsere Interessen vertreten. Diese Berater sind gefährlicher als die handelnden Politiker.“ Dass einige deutsche Politiker den Konflikt immer weiter anheizen, sieht er kritisch. Viele seien Mitglieder der Atlantik-Brücke oder kennen sich von verschiedenen Young-Leader-Seminaren. „Es gibt vernünftige Kräfte, aber die halten sich im Moment bedeckt.“

Israel und Staatsräson

Jens Winkelmann engagiert sich für das Jüdische Museum in Berlin. Sein Patenonkel hat in der Nazizeit nur durch die Kindertransporte 1938 nach England überlebt. Dadurch wurde Winkelmanns Interesse für jüdische Geschichte geweckt. Den Nachlass seines Patenonkels überließ er dem Museum. Außerdem ist er ehrenamtlich für die Einrichtung tätig. Ich frage natürlich nach der Lage in Gaza. „Es gibt einen Unterschied zwischen israelischen Juden und israelischer Politik. Das muss man trennen. Israel hat eine rechte Regierung, die eine ethno-nationale Politik betreibt. Sie will das palästinensische Leben verdrängen. Das ist ein klares Völkerrechtsverbrechen. Das muss und darf man kritisieren. Statt einer dogmatischen Staatsräson wäre es Aufgabe der deutschen Außenpolitik, in der Region Hilfe zum friedlichen Zusammenleben der Völker anzubieten.“

Wenn Jens Winkelmann wieder Diplomat wäre und für einen Tag die Politik in Deutschland gestalten dürfte, welche drei Dinge würde er als erstes tun? „Erstens: Das politische Grundprinzip muss eine friedliche Koexistenz der Völker sein. Zweitens. Die Außenbeziehungen zwischen den Ländern würde ich zum gegenseitigen Vorteil gestalten. Drittens: Die deutsche Politik muss wieder demokratisiert werden. Ich würde etwas wie eine Montagskonferenz einführen, wo alle Probleme auf den Tisch kommen, die es zu lösen gilt.“

Nächstes Jahr will Jens Winkelmann sein Geschäft aufgeben und sich beruflich zur Ruhe setzen. Was bleiben wird, sind sein Engagement und seine Freude an Diskussionsrunden. „Ich werde mich weiter einmischen und an Veranstaltungen teilnehmen“, verspricht er. Jens Winkelmann kann man auf X (früher Twitter) folgen.

Bildquellen: Ausschnitt eines Wandbilds von Michael Fischer-Art in der Leipziger Innenstadt (Frank Vincentz, eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons), Jens inkelmann