Michael Ballweg muss es wissen. Zweimal hat er im August 2020 riesige Menschenmengen nach Berlin gebracht mit einem einfachen Programm. Das Grundgesetz. Bleibt friedlich. Und: Wir schließen keinen aus. Der Staat, sagt Ballweg im Rückblick, habe jemanden wie ihn nicht auf dem Schirm gehabt. Einen Unternehmer, der „alles riskiert, um sich für die Grundrechte einzusetzen“. Dieser Staat habe außerdem „die Power“ der alternativen Medien unterschätzt. Bis Mitte 2021, glaubt Ballweg heute, hätten er und seine Leute im Netz „die Meinungshoheit“ gehabt. „Das war die große Gefahr, welche die Behörden gesehen haben.“
Die Zitate stammen aus einem Interview, das Mathias Bröckers mit Michael Ballweg geführt hat. Für den Medienforscher ist dieses Gespräch ein Geschenk, weil es gewissermaßen von innen zeigt, wie die Öffentlichkeit zerstört worden ist. Der Zeitzeuge Ballweg hat an die Demokratie-Erzählung geglaubt. Also hat er eine Marke entwickelt, seine Events live übertragen und die Reden „sauber auf YouTube nachdokumentiert“. Ein „Gegengewicht“ schaffen zur „falschen Presseberichterstattung“. Den Debattenraum öffnen. Wenn alle Argumente auf dem Tisch liegen, so lässt sich seine Idee zusammenfassen, dann ist die Corona-Politik Geschichte und ich kann wieder im Wald meditieren.
Michael Ballweg hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht und der Gegenseite beim Lernen zuschauen dürfen. Erst die Demos. Anmeldung, Regeln, Teilnehmerzahl, Orte, Ablauf. Ein Katz-und-Maus-Spiel. Dann der eigene Ruf und das, was manche den Geheimdiensten zuschreiben. Die „staatliche Inszenierung“ an der Reichstagstreppe, das Treffen mit Peter Fitzek. Und schließlich die Internetzensur. Das Ende des Videokanals von Querdenken im Mai 2021, die Sperrung von Facebook-Konten kurz vor der Bundestagswahl vier Monate später. Inzwischen wissen wir, dass die Merkel-Regierung schon am 2. Juni 2020 Spitzenleute von Google und Facebook zu einem Corona-Gipfel einbestellt hat. Wir haben die Twitter-Files gelesen, die belegen, dass FBI und CIA direkt an der Löschtaste saßen. Und wir kennen den „Verhaltenskodex“, den die Digitalkonzerne in Brüssel unterschreiben mussten, freiwillig natürlich und seit 2018 mehrfach nachgeschärft.
Mit dem Digital Services Act (DSA) ist all das Geschichte. Diese EU-Verordnung ist ein Ergebnis des Lernprozesses, den Michael Ballweg und viele andere erleiden durften. Ein Unternehmer, der im Wortsinn aus der Reihe tanzt? Journalisten, die im Internet Fangemeinden aufbauen, weil sie Fragen stellen, recherchieren, wider den Stachel löcken? Gar die „Meinungshoheit“ teilen mit Menschen, die ihre Interessen und ihre Sicht auf die Wirklichkeit weder in den Parlamenten finden noch in den Leitmedien, deshalb auf die Straße gehen und Kameras mitnehmen?
Nicht mit Ursula von der Leyen, nicht mit Abgeordneten wie Alexandra Geese von den Grünen, die einen „digitalen Frühling“ heraufdämmern sieht – ohne all diese Leute, die die „Freiheit im Netz“ bedrohen. Die EU-Kommission hat im Juli 2020 einen „Aktionsplan für Demokratie“ aus dem Hut gezaubert und jeder „Desinformation“ den Kampf angesagt. Schluss mit dem NetzDG, das die Corona-Proteste nicht verhindern konnte, weil der Staat hier hoffen muss, dass das Silicon Valley mitspielt und die Gerichte diesen neuen Zensurmaschinen nicht ins Löschwerk pfuschen. Schluss auch mit den Selbstverpflichtungen. Der Digital Services Act zwingt die Anbieter zu unser aller Glück. Das Ziel steht gleich in Artikel 1, veröffentlicht am 19. Oktober 2022, für alle Plattformen und Suchmaschinen gültig seit dem 17. Februar 2024: ein „sicheres, berechenbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld“.
Im Klartext: Noch einmal wird sich der Staat nicht so leicht herausfordern lassen. DSA-Artikel 36 beschreibt einen „Krisenreaktionsmechanismus“, der Brüssel drei Monate lang erlaubt, Anbieter einzuschränken oder ganz vom Netz zu nehmen, wenn die Kommission „öffentliche Sicherheit“ oder „öffentliche Gesundheit“ bedroht sieht. In normalen Zeiten liegt der Schwarze Peter bei Betreibern wie Youtube, Tiktok oder X, die darauf achten sollen, „wie ihre Dienste zur Verbreitung oder Verstärkung nur irreführender oder täuschender Inhalte einschließlich Desinformation genutzt werden“. Irreführend, täuschend, Desinformation: Man muss gar nicht mehr gegen Recht und Gesetz verstoßen, um in die Mühlen der Löschmaschine zu geraten. Dabei gilt eine Art Präventionsprinzip: Artikel 34 (Risikobewertung) nennt neben rechtswidrigen Inhalten „absehbare nachteilige Auswirkungen“ auf alles Mögliche – von Wahlen über „die gesellschaftliche Debatte“ bis zu „geschlechtsspezifischer Gewalt“ und „Folgen für das geistige und körperliche Wohlbefinden einer Person“. Die Plattformen werden einen Teufel tun, irgendetwas stehenzulassen oder zu promoten, was nur einen entsprechenden Verdacht auslösen könnte. Es drohen Geldbußen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Vorjahresumsatzes (Artikel 52, Sanktionen).
Der DSA ist ein Musterbeispiel für Regieren im „umgekehrten Totalitarismus“ (Sheldon Wolin) – in einem politischen System, in dem Staat und Konzerne zu einer „Supermacht“ verschmelzen. Hier ein staatlicher Anstoß und dort Internetgiganten, die zu Wahrheitsanstalten mutieren, weil es Strafen hagelt, wenn sie nicht löschen, blockieren, unterdrücken, und weil viele kleine Cancel-Kanzler in Redaktionen, Universitäten, NGOs, Behörden und Warteschleifen über alles wachen, was ihnen nicht in den Kram passt und ihr Ein- und Auskommen gefährden könnte, da sie von Steuergeldern abhängen und damit von der gerade aktuellen Machtinterpretation der Wirklichkeit. Das Bundeskriminalamt, das in Deutschland die Aufsicht übernehmen soll, rechnet mit 720.000 Meldungen pro Jahr und plant deshalb 450 neue Stellen. Ich bin jetzt gespannt, wo und wie der nächste Ballweg auftaucht. Wahrheit sticht Zensur am Ende immer.