Es ist kalt, dunkel und nieselt. Umso wärmer und freundlicher wirkt die morgendliche Schichtübergabe der Pfleger im Altenheim „Haus Kirchberg“ in Hittfeld, einem Dorf südlich von Hamburg, bei Kaffee und guter Laune. So eine Runde darf es gar nicht geben, glaubt man zahlreichen Medienberichten über die Situation in Pflegeeinrichtungen: keine Qualität, keine Leute, keine Zeit. Teuer für die Bewohner, schlecht bezahlt für die Beschäftigten. Das Heim der Diakonie in Hittfeld zeigt, dass es auch anders geht.
Um sechs Uhr startet die Frühschicht von Frederik Doil. Bevor der 36-Jährige die ersten Heimbewohner weckt, trinkt er mit seinen Kollegen aus der Nachtschicht einen Kaffee. Diese berichten von den Ereignissen der letzten Stunden und erklären, auf welche Bewohner Doil und sein Team an diesem Tag besonders achten sollen. Es wird geplaudert und gelacht – trotz der frühen Uhrzeit für die einen und der langen Nacht für die anderen. In den meisten Altenheimen, die er kennt, sei das anders, sagt Doil: „Da sind die Pfleger schon bei Schichtbeginn müde, haben schlechte Laune und ihre Mundwinkel hängen bis zum Nirgendwo.“
Nachdem alle ihre Kaffeetassen geleert haben, geht es an die Arbeit. Eigentlich hatte Doil an diesem Tag frei, aber eine Kollegin ist ausgefallen. Sein Reich heute: der erste Stock, in dem 44 Senioren mit verschiedenen Pflegegraden wohnen. Dort teilen sich die Pfleger so auf, dass jeder sieben bis zehn Bewohner „erstversorgt“, wie es in der Fachsprache heißt. „An Personal mangelt es hier nicht“, sagt Doil. In vielen anderen Einrichtungen sei es üblich, dass nur etwa halb so viele Pfleger wie in Hittfeld eingesetzt würden. Das sei Verhandlungssache der Heimleitung mit den Pflegekassen.
Doil klopft an eine Tür und tritt ins Zimmer: „Guten Morgen“, begrüßt er die Bewohnerin. „Möchten Sie aufstehen?“ Die Frau nickt. Doil wäscht die Frau, zieht sie an, gibt ihr die morgendlichen Tabletten und begleitet sie zur Toilette. Anschließend hilft er ihr in einen Sessel, den die Seniorin von Zuhause mitgebracht hat, und legt ihr eine Puppe in den Arm. Die Frau beginnt sofort, die Haare ihrer Lieblingspuppe zu kämmen. Doil fragt, wie sie geschlafen hat, während er das Bett frisch bezieht. „Den Bezug wechseln wir nach Bedarf“, sagt Doil. „Aber mindestens einmal pro Woche.“
Der Pfleger klopft an die nächste Tür. Diese Seniorin möchte noch ein bisschen weiterschlafen. Also verlässt er ihren Raum unverrichteter Dinge. Nächstes Zimmer, nächstes Angebot. „Auch das ist von Einrichtung zu Einrichtung anders“, sagt Doil. Häufig würden die Betreiber Druck auf ihre Pfleger ausüben: „Bis acht Uhr sollen alle Bewohner geweckt und gewaschen sein – was diese wünschen, ist egal.“ Doils Kollegin, Stefanie Pooi Ling Kok (Foto), erzählt auf dem Flur, dass sie bereits in zehn anderen Heimen gearbeitet habe: Dort gehe es oft zu „wie am Fließband“, sagt sie: „Wecken, waschen, anziehen, nächstes Zimmer.“ Im Haus Kirchberg arbeitet sie jetzt seit über 18 Jahren: „Hier geht es am menschlichsten zu.“ Sie habe in diesem Heim die Zeit und Möglichkeit, mit den Bewohnern auch mal ein Spiel zu spielen oder ihnen zuzuhören. Die Pflegerin betritt das nächste Zimmer mit einem fröhlichen „Guten Morgen, meine Prinzessin“.
Pooi Ling Kok ist nicht die Einzige, die dem Haus Kirchberg schon seit vielen Jahren die Treue hält. Die meisten arbeiten seit über zehn Jahren in diesem Heim, viele schon seit der Eröffnung vor zwanzig Jahren. Doil ist dagegen fast noch ein Neuling in Hittfeld: „Im Oktober werden es bei mir sechs Jahre.“ Er sieht seinen Arbeitsplatz als „Glücksgriff“, nachdem er vorher Honorararbeiter in vielen verschiedenen Einrichtungen war. Honorarkräfte sind freiberufliche Pfleger, die tageweise einspringen, wenn akute Personalnot besteht. „Fallen zwei Pflegekräfte aus, wird meist nur eine durch eine Honorarkraft ersetzt, weil die so teuer sind.“ Als solch ein Zeitarbeiter habe er daher durchgehend unterbesetzte Zustände erlebt. „Das hält man nicht lange aus, ohne daran kaputtzugehen.“ Und Teamarbeit könne so gar nicht entstehen.
Was Doil an seinem Beruf am meisten mag? Die Menschlichkeit. „Wenn der Pfleger ein Zimmer verlässt und es dem Patienten gut geht oder er sogar lächelt, dann hat man einen guten Job gemacht.“ Dafür müsse er auch mal Nähe aufbauen oder einen Patienten in den Arm nehmen, wenn dieser sich einsam fühlt oder traurig ist. Doil kann allerdings verstehen, dass Pfleger in anderen Heimen die alten Leute einfach vor ein Fenster schieben und sie dort auf das Essen warten lassen: „Viele haben sich zum Selbstschutz eine solche Distanz aufgebaut. Denn wenn für 70 Bewohner nur drei bis vier Pfleger eingesetzt werden, dann stehen diese dauerhaft unter Strom. Da bleibt dann keine Zeit, sich aktiv auf die Heimbewohner einzulassen.“
Mittlerweile haben Doil und seine Kollegen alle Heimbewohner geweckt. Am Frühstückstisch legt der Pfleger einer Frau im Rollstuhl einen Kleidungsschutz um, setzt sich neben sie und reicht ihr ein Milchbrötchen mit Marmelade und einen Erdbeerjoghurt, dazu Kaffee und Saft. „Wir reichen niemals im Stehen, also von oben herab, das Essen an“, sagt er und wischt der Frau mit einer Serviette einen Brotkrümel vom Kinn.
Frederik Doil sagt, dass es private Trägergesellschaften seien, die in ihren Einrichtungen zu wenig Mitarbeiter für zu viele Bewohner einsetzen. Der Grund: Wenn ein Pflegeheim an Personal spart, erziele es höhere Gewinne. Die Einnahmen seien überall ungefähr gleich, sagt Doil: „Die Krankenkassen übernehmen die Kosten gemessen an den Pflegegraden der Bewohner.“ Um schwarze Zahlen zu schreiben, muss also gespart werden. Für einen würdevollen Umgang mit den Bewohnern fehlt dann aber die Zeit. Das Haus Kirchberg interessiere das kaum. Hier stehe der Mensch im Mittelpunkt, so Doil. Dieses Heim gehört keinem privaten Träger, sondern der Diakonie, dem Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen. „Der Gewinn ist meist plus minus null, aber dafür fühlen sich sowohl die Bewohner als auch die Mitarbeiter wohl.“
Doil sieht die Verantwortung für die Situation in der Pflege folglich nicht nur bei der Politik, sondern auch bei den Heimbetreibern: Die Politik legt den Einrichtungen durch Auflagen, Mitarbeiterschlüssel und fehlende Finanzierungen Handschellen an. Aber häufig sparten private Trägerschaften am Personal und bauten Druck auf ihre Angestellten aus, sodass diese Energie und Freude am Beruf verlieren. Viele Pfleger wechselten deshalb alle ein bis zwei Jahre die Einrichtung oder verließen den Beruf ganz. Da es „nicht erst seit gestern“ zu wenig Pflegekräfte und Berufseinsteiger gibt, sollten die Unternehmen aufhören zu meckern und die Schuld auf die Politik zu schieben. Stattdessen sollten sie ihre Angestellten „behüten wie eine kleine Blüte“, sagt Frederik Doil. Das Gehalt sei dabei zweitrangig: „Das Gefühl des Miteinanders ist entscheidend.“ Im Hittfelder Heim „sitzen Führungsetage und Mitarbeiter im selben Boot“. Die Heimleitung sehe und bestätige die Pfleger und schätze sie für ihre Arbeit.
Nach dem Frühstück decken Doil und die anderen Pfleger den Tisch ab und bringen das Geschirr zur Küche. Inzwischen sind zwei Beschäftigungstherapeutinnen angekommen. Heute singen sie mit den Senioren. An anderen Tagen bieten sie Gymnastik, Plattdeutsch-Kurse oder Zeitungsrunden an. Außerdem können sich die Heimbewohner von Friseurin Maria die Haare schneiden lassen. Eine Seniorin folgt, auf ihren Rollator gestützt, einer Therapeutin und sagt mit einem Lächeln: „Langweilig wird es hier nie. Man muss sich eher selbst Pausen einräumen.“ Wenn zwischendrin jemand solch eine Auszeit braucht oder auf die Toilette gehen möchte, sind die Pfleger zur Stelle.
Zwischen 12 und 13 Uhr gibt es Mittag: Das Pflegeteam bringt den Bewohnern das Gericht ihrer Wahl. Traditionelle oder leichte Kost. Manche essen am Gemeinschaftstisch und andere in ihren privaten Zimmern. Bei Bedarf reicht Doil den Senioren ihre Speise – „füttern“ würde er nur seine Tochter, erklärt der Fachmann. Nachdem er das Essen weggeräumt und die Bewohner in die Mittagsruhe begleitet hat, geht es für ihn gegen 14 Uhr in den Feierabend und nach Hause – noch immer mit guter Laune. Erschöpft sei er nicht. „Die Pflege ist ein schöner Beruf. Die Einrichtungen müssen nur lernen, ihn besser zu verkaufen und ihre Mitarbeiter mit guten Bedingungen zu halten.“
Der Text entstand im Rahmen eines Kurses zum Thema „Bericht“ an der Freien Akademie für Medien & Journalismus.