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Bericht | 26.01.2024
Verschenktes Potential
Die Ausbildung zum Potentialentfaltungscoach nach Gerald Hüther bei Younity – ein Erfahrungsbericht
Text: Frank Alexy
 
 

Ich sage immer: Gerald Hüther hat meiner Tochter das Leben gerettet. Was natürlich übertrieben ist. Aber: Bevor das Kind in die Schule kam, sahen wir Eltern den Film Alphabet, in dem Gerald Hüther sinngemäß sagt: Wenn ein Kind Englisch lernt, obwohl es keinen Bezug zu dieser Sprache hat, lerne es in erster Linie, dass es etwas lernt, was es überhaupt nicht braucht. Und das beschädige die Lust am Lernen. Darüber hinaus werde das Kind durch dieses Input-Learning zum Objekt der Bildungsmaschine aus Institution und Lehrerschaft. Wir haben es auch dank dieses Films unserer Tochter ermöglichen können, die Schulzeit als Subjekt zu überstehen.

Nun kam die sogenannte Pandemie, und ich fiel in die größte Krise meines Lebens, verlor die meisten meiner Freunde und mein Einkommen. Ein Noteinkommen war schnell gefunden, die Freunde blieben weg – bis heute. Die Krise blieb zunächst auch. Wie so viele verbrachte ich jeden Freitag am Bildschirm, um die Sitzung des Corona-Ausschusses zu verfolgen. Der Rest der Woche war geprägt von Routine und Depression. Was tun?

Das Neue suchen

Erste Impulse kamen von Jens Lehrich. Meine Resilienz sprang an, und ich machte mich auf den Weg, „das Neue“ zu suchen. Ende 2022 erzählte eine Monika im Ausschuss von der Potentialentfaltung in einer Weise, die mich begeisterte. Am nächsten Tag führte mich die Suche im Internet zur Seite von Younity, die eine „Ausbildung zum Potentialentfaltungscoach nach Gerald Hüther“ im Angebot hatten. Als Ästhet war mir zwar bei dem Begriff „Coach“ etwas mulmig geworden, aber ich machte weiter, meldete mich kostenlos zur „Masterclass“ an und sah ein Werbe-Video mit Gerald Hüther.

Die weiteren Schritte zur „Masterclass“ erinnerten mich an Teleshopping mit Countdown-Uhr. Nirgendwo etwas über konkrete Inhalte und den Preis der Ausbildung. Ich erfuhr stattdessen, was Younity alles an Esoterik im Angebot hat. Und musste Kontakt zu Younity aufnehmen. Man kann dort nicht einfach anrufen oder sich eine E-Mail mit Informationen schicken lassen – man muss sich zu einem Zoom-Meeting anmelden, was ich in ein Telefonat ändern konnte. In diesem Gespräch hatte ich das Gefühl, mich bewerben zu müssen. Andere Teilnehmer erzählten später von Verkäufern, die Druck machten mit Floskeln wie „einmalige Gelegenheit“ oder „nicht mehr viele Plätze frei“. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, beschrieb mir der Verkäufer in groben Zügen die Ausbildung, die online stattfindet. Es sollte Coaches geben, die uns durch 20 zweistündige Zoom-Meetings begleiten, und „der Gerald“ würde zu den Live-Calls zirka alle drei Wochen dazukommen. Insgesamt sieben Termine, an denen alle (!) Teilnehmer die Chance hätten, mit Gerald zu sprechen.

Das sollte in den ersten sechs Monaten erarbeitet werden: die eigenen, wahren Bedürfnisse und was zu deren Unterdrückung führt – also Potentialentfaltung. Danach sollte ein Praxiswochenende in Basel stattfinden. Die Ausbildung kostet 6.000 Euro plus Unterkunft, Verpflegung und Anreise zu dem Wochenende in Basel, also für mich knapp 7.000 Mäuse. An dieser Stelle dachte ich bereits zum vierten Mal – „Nein“!

Umkehrschub

Ganz ehrlich: Dass ich mich doch dazu hinreißen ließ, mich anzumelden, lag zum einen an meiner Verzweiflung und Hoffnung und zum anderen daran, dass ich eine Woche zuvor 5.000 Euro quasi gewonnen hatte. Und: Ich hatte großes Vertrauen in Gerald Hüther. Also: Schub, Rakete! Ich bekam ein Paket von Younity. In einem hochwertigen Karton mit Magnetverschluss befanden sich Workbook, DIN A4-Block im Corporate Design von Younity, Kugelschreiber, Baumsamen und ein Pflanztöpfchen aus Pappe.

In der ersten Sitzung erklärten unsere Coaches das Ausbildungs-Procedere. Ich wunderte mich, dass es nur zwei Coaches gab für damals 320 Teilnehmer der zweiten Klasse. Ich war schockiert über diese hohe Zahl und musste mit dem Taschenrechner meinen Überschlag im Kopf bestätigen, da ich nicht glauben konnte, dass gerade fast zwei Millionen Euro auf das Konto von Younity geflossen waren. Ich fühlte mich ausgenutzt und übervorteilt, blieb aber dennoch hoffnungsvoll dabei. Wir wurden dann per Zufallsgenerator in Kleingruppen von jeweils sechs Leuten eingeteilt. Sehr ungünstig bei diesem Verfahren ist, dass mein Freundeskreis sich jetzt von Kiel bis Graz und von Berlin bis Düsseldorf erstreckt.

In der Kleingruppe haben wir uns (von Younity organisiert) alle 14 Tage im Gruppen-Call gesehen und selbstorganisiert in den Wochen dazwischen. Aufgrund der großen Distanz zwischen unseren Wohnorten haben es nur vier von uns einmal geschafft, sich in Präsenz zu treffen. Die Arbeit in unserer Gruppe war allerdings sehr erfolgreich. Ich kann sagen, dass wir alle einen großen Willen und die Bereitschaft zur Offenheit mitgebracht haben, wovon das Gelingen der Gruppenarbeit abhängt. Ich weiß, dass es auch Gruppen gab, in denen es nicht so gut lief. Wie auf Störungen in den Kleingruppen von Younity reagiert wurde, ist mir nicht bekannt. Zu unserer Gruppenarbeit ist nie ein Coach erschienen.

Vor jedem von Younity organisierten Kleingruppen-Call konnten wir uns Initialfragen vom Portal herunterladen und besprechen. Ich habe diese Fragen als wenig hilfreich empfunden. Wir haben sie bald außer Acht gelassen und arbeiteten daran, uns gegenseitig zu helfen, das heißt, wir versuchten die individuellen Verwicklungspunkte zu erkennen und diese dann quasi zu entwickeln. Also: das darunterliegende Potenzial freizulegen und zu entfalten. Ich glaube, das funktioniert bei wenig traumatisierten Menschen, die gut reflektiert sind. Ich kritisiere an dieser Stelle in erster Linie, dass wir diese Arbeit ganz allein gemacht haben, ohne dass uns jemand dabei beobachtet oder begleitet hätte. Wofür hatten wir eigentlich bezahlt?

Enttäuschung

Wer wissen will, worum es bei der Ausbildung geht, kann sich online über die „Masterclass“ informieren. In Kurzform: Die Ausbildung basiert auf fast 50 Vorlesungen, die in zwölf Module eingeteilt sind. Diese Vorlesungen sind auf dem Portal von Younity abrufbar und werden für Teilnehmer schrittweise freigegeben. Angeblich hat man ein Leben lang das Recht, diese Vorträge auf dem Portal anzusehen. Uns wurde zu Beginn der Ausbildung allerdings versprochen, dass wir uns bei den nächsten Ausbildungsklassen zuschalten, also erneut mitmachen könnten. Diese Option wurde am Ende unserer Ausbildung überraschend gestrichen. Angeblich kam es zu Schwierigkeiten mit den „alten“ Teilnehmern, die teilweise von Younity als sogenannte Buddies in den Kleingruppen eingesetzt wurden. Als ob sich so ein Problem nicht besser lösen ließe als durch Ausschluss. Für Younity war es aber auch schon eine unlösbare Aufgabe, die Teilnehmer nicht mit Spam-Mails zu belästigen: Wer sich vom „Newsletter“ abmeldete, bekam keine Informationen und keine Einladungen zu den Calls mehr.

Einblicke

Zu Beginn lag Euphorie in der Luft. Einige Teilnehmer waren schier aus dem Häuschen darüber, dass es nun losgeht. Mein nächster Eindruck war, dass die Coaches unnatürlich, aufgesetzt liebevoll und betulich sprachen, was bei mir später zu Aggressionen führte, so dass ich den Ton abschaltete und nur noch an den Kleingruppen teilnahm. Bei Geralds Fragestunde schaltete ich den Ton ebenfalls aus, wenn die Coaches sprachen. Allerdings waren diese Coaches auch keine Coaches, sondern bestenfalls Moderatoren mit Administrationsrechten, die den Teilnehmern die Mikros freischalteten. Einer der Coaches wurde mitten in der Ausbildung ersetzt durch eine Coachin, die sehr unsicher wirkte – wie eine überforderte, junge Lehrerin. Sie hatte die „Ausbildung“ selbst erst unmittelbar vor unserer Klasse absolviert.

Bei den Sitzungen mit Gerald waren selten alle Teilnehmer da. Aber selbst wenn nur 100 Leute vor den Empfangsgeräten saßen, war klar: Alle können hier nicht ihre Anliegen oder Fragen vortragen, denn die Sitzungen wurde recht streng auf zwei Stunden begrenzt, was ich bei dem gezahlten Preis als Dreistigkeit empfunden habe. An dieser Stelle ist es mir aber auch wichtig zu sagen, dass Gerald aus jedem Gespräch etwas herausholen konnte, was für alle einen Erkenntnisgewinn hatte. Der Mann ist einfach gut.

Randnotiz: Das Workbook hatte keine Bedeutung für die Ausbildung. Es wurde lediglich auf Nachfrage eines Teilnehmers von Gerald kurz als nicht wichtig erwähnt. Ich fand es schwierig, allein darin zu arbeiten und das in die Sitzungen einfließen zu lassen. Auch in unserer Kleingruppe spielte das Buch keine Rolle.

Ende und Fazit

Am Ende gibt es noch das große Happening in Basel, im Hotel des Geschäftsführers von Younity. Von diesem Ereignis kann ich nichts erzählen, da ich nicht hingefahren bin. Andere haben mir berichtet, dass es eine Veranstaltung ohne weitere Vertiefung des eigentlichen Themas war, obwohl hier ja eigentlich „Praxis“ versprochen wurde.

Die Abschlussarbeit, die zur Erlangung des Zertifikats führt, besteht aus zwei Berichten, die jeweils nicht länger als eine DIN A4-Seite sein sollen. Der eine Bericht ist eine Selbstbetrachtung über den Verlauf der Ausbildung. Der zweite Bericht sollte von einer Person verfasst sein, die die Teilnehmerin während der Ausbildung begleitet hat oder in ihrer Nähe war. Ich habe diese Berichte fristgerecht bei Gerald persönlich eingereicht, aber bis heute kein Zertifikat erhalten.

Mein Fazit: Ich bin nach der „Ausbildung“ nicht in der Lage, andere Menschen zu coachen. Ich habe dank der Gruppenarbeit eine persönliche Entwicklung gemacht. Dafür hätte ich aber gerne sehr viel weniger Geld ausgeben. Ich weiß von Teilnehmern, die einen Kredit für diese „Ausbildung“ aufgenommen haben, auch weil sie dachten, es ließe sich hinterher damit etwas Geld verdienen. Vielleicht ist das möglich. Aber ohne weitere Expertise und Erfahrung im therapeutischen Bereich wird das für die Klienten dieser Coaches keine gute Erfahrung werden. Ich halte es für gefährlich, derartig schlecht ausgebildete Leute auf bedürftige Menschen loszulassen.

Kritik und Abschied

Im Verlauf der „Ausbildung“ habe ich mehrfach Kritik gegenüber Younity formuliert, die mit Textbausteinen beantwortet wurde – nach so kurzer Zeit, dass der Rückschluss erlaubt ist, dass ich nicht der erste bin, der Kritik formulierte. Aber laut Gerald gibt es nur maximal ein Prozent unzufriedene Teilnehmer. Ich allein habe Kontakt zu sechs Unzufriedenen gehabt und ich kenne überhaupt nur neun Leute, die diese „Ausbildung“ gemacht haben. Mein Eindruck ist, dass bei vielen der Wunsch Vater des Gedankens ist. Man möchte dazugehören und auch erleuchtet sein. Man kann sich sehr viel einreden im euphorischen Bann einer Gruppe und ihrer Dynamik.

Ich habe dann persönlich zu Gerald Kontakt aufgenommen, weil mein Vertrauen in Younity verloren war. Dieser Mailkontakt war enttäuschend. Mehr möchte ich aus Respekt nicht sagen. Ich glaube, Gerald hat sich verlaufen bei der Suche nach einem Ort, an dem sein Lebenswerk fortlebt und in die Breite getragen werden kann, was ein wichtiges Anliegen ist, das ich unterstütze. Aber nicht in dieser Form. Ich bin enttäuscht und auch wütend – aber diesen Absatz zu schreiben, macht mich am meisten traurig. Ich schreibe diesen Bericht in der Hoffnung, dass die neue Welt ein besserer Ort wird, an dem Menschen wie Gerald einen würdigen Platz für ihren Schatz finden. Denn ein Schatz ist die Potenzialentfaltung. Younity hingegen ist eine rein kapitalistisch orientierte GmbH. Statt Zahnbürsten, Schinken oder Pistolen liegt hier Seelenheil in der Auslage. Was okay ist, aber nur in der alten Welt. In der neuen Welt, die wir gerade bauen müssen, darf diese Art der Geschäftemacherei keinen Platz haben.

Frank Alexy hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.

Bildquellen: Joe auf Pixabay