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Bericht | 02.07.2024
Widerstand mit Tradition?
In Neubrandenburg wird seit vier Jahren jeden Montag demonstriert – ganz wie 1989. Ein Vor-Ort-Besuch bei einem der Organisatoren.
Text: Mirko Jähnert
 
 

Willi Lehmann war ein Kleinkind, als die DDR unterging. Heute ist er 37 und einer der Köpfe der Corona-Demos in Neubrandenburg. Auch Robert Feuker (45), einer seiner Partner, kann schon altersmäßig kein Protagonist der Wende gewesen sein. Trotzdem haben sich beide auf die Tradition berufen, als Anfang Mai 2020 die Proteste in der Vier-Tore-Stadt starteten. „Wir sind eine Gruppe von Leuten, die damals ein Zeichen setzen wollten“, sagt Willi Lehmann. „Unser Motto war von Anfang an Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung.“ Da er sich noch gut an den Umgang mit der Schweinegrippe erinnern konnte, war er schnell kritisch, als es um ein „neues Virus aus China“ ging.

Der Zeitpunkt für die Demos auf dem Marktplatz war schnell klar. Montags, wann sonst. Anfangs verdoppelten sich die Teilnehmerzahlen wöchentlich – nur durch Mundpropaganda. „Ende Mai 2020 waren wir schon bei etwa 300.“ Nicht jeder im Freundes- und Familienkreis hatte Verständnis. Spaltung war auch hier ein Thema – genau wie die Vernetzung mit denen, die sich jetzt regelmäßig auf dem Markt trafen.

Live und im Internet

Ab September 2020 nutzten die Organisatoren auch soziale Medien, um auf sich aufmerksam zu machen. YouTube, Telegram, Facebook, Instagram. Das Interesse der Neubrandenburger wuchs, je stärker die Maßnahmen wurden. Willi Lehmann: „Jeden Montag um 19 Uhr trafen wir uns. Nach mehreren Redebeiträgen begann der Spaziergang durch ein Stadtviertel. Das ist auch heute noch so.“ Eine skurrile Situation gab es am 9. November 2020. An diesem Tag hatten sich Bodo Schiffmann und Samuel Eckert angekündigt, die gerade eine „Corona-Info-Tour” durch Deutschland machten. Als die Polizei den Bus wenige Kilometer vor Neubrandenburg stoppte, machten sich viele Teilnehmer der Demo auf den Weg in die kleine Ortschaft Weisdin. Bis zu 80.000 Menschen verfolgten die Szenen in einem Livestream.

Mit Beginn der Impfkampagne stiegen die Teilnehmerzahlen weiter. „Als die einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen wurde, traten mutige Mitarbeiter des Klinikums bei uns auf“, sagt Willi Lehmann. „Wochenlang kamen jedes Mal rund 1500 Menschen zu den Spaziergängen.“ Als in Deutschland eine allgemeine Impfpflicht im Gespräch war, stieg diese Zahl auf mehr als 3500. „Viel Unterstützung bekamen wir in dieser Zeit auch von Privatpersonen und regionalen Firmen, die uns zum Beispiel Technik und Transporter zur Verfügung stellten.“

Die Regierungen in Bund und Ländern versuchten, die Demos durch Auflagen zu verhindern. Abstandsregelungen, Maskenpflicht. Das war in Neubrandenburg nicht anders. „Wir haben dann einfach Autokorsos gemacht. Im Großen und Ganzen war die Zusammenarbeit mit Polizei und Behörden aber fair. Kein Vergleich zu Berlin, wo die Beamten brutal vorgingen. Nur gelegentlich gab es unverhältnismäßige Entscheidungen zum Ordnerschlüssel oder zu Ordnungswidrigkeiten wegen fehlender Maske allein im Auto.“

Nach Corona

Im Frühjahr 2022 traten andere Themen in den Vordergrund. Der Konflikt in der Ukraine beeinflusste auch die Neubrandenburger Montagsdemos. Russland-Sanktionen, Nord Stream 2, Energiekosten. „Damals hat sich uns das Friedensbündnis Neubrandenburg angeschlossen“, erzählt Willi stolz. „Dort waren viele ja auch von Beginn an kritisch.“ Auf den Demos gab es jetzt Schilder wie „Frieden mit Russland“ oder „Diplomaten statt Granaten“. „Frieden ist uns eine echte Herzensangelegenheit“, so Willi Lehmann.

Wie schafft ihr das, neben eurem Privatleben jede Woche eine Demo zu organisieren, möchte ich wissen. Willi Lehmann: „Es macht uns Spaß. Und es ist schon eine Menge Herzblut dabei.“ Im Januar haben er und seine Leute die regionalen Landwirte und Unternehmen bei ihren Demos unterstützt und es damit immerhin in die Medien geschafft.

Robert, Willi und viel andere demonstrieren immer noch jeden Montag. Manchmal mit Humor, wenn es zum Beispiel um die Tagesschau in einfacher Sprache geht, die über die Lautsprecher läuft. Aber auch an der Aufarbeitung der Corona-Zeit sind die Organisatoren beteiligt. Willi Lehmann hat gemeinsam mit einer Bürgerinitiative über 4000 Ärzte in Deutschland kontaktiert und einen Fragebogen geschickt. Die Ergebnisse lassen aufhorchen. Von den 119 Ärzten, die geantwortet haben, bestätigten viele, dass es seit der Impfkampagne mehr Krankheitsfälle gibt, vor allem Gürtelrose und Atemwegserkrankungen (jeweils 41 Prozent der befragten Ärzte), Thrombose (37), Krebs (36) und Herzmuskelentzündungen (27).

Es gibt also viel zu tun für die Neubrandenburger Aktivisten. „Frieden schaffen, echte Demokratie und ein unabhängiges Mediensystem sind heute unsere Anliegen“, sagt Willi Lehmann. Unterstützen kann dabei jeder. „Dabeisein und mitmachen, Reden halten, Flyer verteilen und gern eigene Ideen einbringen.“

Bildquellen: YouTube-Screenshot @Nordkurier